Wenn Bücher als Dateinamen enden

Von Rolf Schneider |
Die Entwicklung des Buches zum E-Book ist folgerichtig, ist es doch für Verlage viel günstiger als ein gedrucktes. Aber als das Buch digital wurde, ging auch die Sorgfalt verloren. Und wenn man nicht aufpasst, endet es als ein Dateiname - vergessen auf irgendeiner Festplatte, meint Rolf Schneider.
Der Aufbau Verlag in Ostberlin war zu Zeiten der DDR ein besonders großes und besonders nobles Editionshaus. Beschäftigt wurde dort ein Lektorat mit drei Dutzend Mitarbeitern, dazu hielt man sich einen Stamm von Korrektoren. Manuskripte, die in die Druckerei gingen, wurden zuvor sowohl von einem Lektor wie von einem Korrektor auf Fehler gelesen. Gleiches geschah nach dem Maschinensatz und dann nochmals nach dem Seitenumbruch.

Das aufwändige Verfahren hatte zunächst ideologische Gründe. Druckschriften waren geeignet, unbequeme Gedanken zu transportieren, was der staatlichen Stabilität wegen zu verhindern war. In diesem Sinne fungierten Lektor und Korrektor als Teil der Zensur, die nur nicht so heißen durfte.

Die DDR ist untergegangen, das dortige Editionswesen ist es auch. Der Aufbau Verlag arbeitet längst als privatwirtschaftliches Unternehmen wie die übrigen Verlagshäuser des wiedervereinigten Deutschland. Wer neuere Bücher zur Hand nimmt, selbst solche aus sehr angesehenen Verlagen und solche von renommierten Autoren, ist bestürzt ob der vielen Satzfehler und der manchmal schlampigen Textredaktion. Kritische Rezensionen pflegen hier anzumerken, offenbar sei kein Lektor am Werk gewesen.

Die Vermutung dürfte zutreffen. Es war tatsächlich kein Lektor am Werk. Wahrscheinlich hat ein schlecht oder gar nicht bezahlter Praktikant den Text zügig weitergereicht an die Druckerei. Dieser Text war kein Manuskript, sondern eine vom Verfasser gelieferte Computerdatei, die Rechtschreibung wurde durch ein fehlbares PC-Programm überprüft.

Wichtiger als Lektoren sind in heutigen Verlagen die Marketing- und Presseleute. Sie sollen Buchtitel ins Gespräch, in die Zeitungen, in die Geschäfte bringen und solcherart den Umsatz befördern. Lektorate, sofern sie noch stattfinden, erfolgen gern per Outsourcing an Kräfte, die dergleichen oft im Nebenberuf erledigen, auch da sie nicht sonderlich gut honoriert werden. Gibt es aber noch fest angestellte Lektoren, etwa in größeren Häusern, sind ihr Sozialprestige und ihre Einkommen nicht sonderlich hoch.

Diese missliche Situation ist fast allen in der Branche Tätigen bekannt. Sie wird auch beklagt, ändern will oder kann sie keiner. Die Wirklichkeit des Marktes, heißt es, stehe dagegen. Die Wirklichkeit des Marktes ist, dass zu viele Titel erscheinen, von denen nur ein Bruchteil reüssieren kann. Die Wirklichkeit des Marktes ist, dass eine neuartiger Buchtypus auf dem Vormarsch ist: das durch Digitalisierung hergestellte E-Book.

Ein über das Internet auf den Computer oder einen speziellen Reader geladener Text hat für den Verleger Vorteile. Die kostspieligen Umwege über Druckerei, Vertreter und Sortimenter fallen fort. Der Verleger wird zum alleinigen Produzenten, was seinen Gewinn zu maximieren vermag. Zudem gibt es Unternehmen, die Bücher ausschließlich über das Netz anbieten, nicht zu reden von jenen Autoren, die ihre Schöpfung auf solchem Wege direkt vertreiben. Dass mit alledem fünfhundert Jahre Buchpraxis untergehen samt der Kultur von Druck, Bindung und Ausstattung, weiß jeder alle, dem das Buch mehr ist als bloß ein Behältnis etwelcher Inhalte.

Damit das herkömmliche Buch weiter existiert und weiter existieren kann, braucht es Anstrengung und Sorgfalt. Sie betreffen auch den Umgang mit den Texten. Die Massierung von Druckfehlern ist ebenso Indiz für mangelnde Zuwendung wie eine schlampige Erzählweise.

Man sage nicht, dass beides gleichermaßen für das E-Book gelte. Ein herkömmliches Buch stelle ich in meine Bibliothek und nehme es irgendwann wieder zur Hand. Ein E-Book endet in den Tiefen meiner Festplatte als ein rasch zu vergessender Dateiname unter anderen.

Rolf Schneider, Schriftsteller, Essayist, Publizist, stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Seine politischen und künstlerischen Lebenserinnerungen fasst er in dem Buch "Schonzeiten. Ein Leben in Deutschland" (2013) zusammen.
Rolf Schneider, Schriftsteller und Publizist
Rolf Schneider, Schriftsteller und Publizist© Therese Schneider
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