Weisheiten aus der Welt der Muße

Von Sieglinde Geisel · 08.08.2007
Wir wissen nicht, wie es vor Tausenden von Jahren dazu kam, dass die Menschen das Rad erfanden. Wir wissen nur dies: Die Menschen hatten damals viel Zeit, freie, unbesetzte Zeit, in der sie nichts "tun" konnten – nur schon, weil es nach Einbruch der Dunkelheit dunkel blieb. Wenn wir auch nicht wissen können, was die Menschen mit dieser Zeit anfingen, so hatten sie doch zweifellos Gelegenheit zum Nachdenken über dies und das. Dabei mag einem von ihnen eine Merkwürdigkeit aufgefallen sein.
Wenn ein Stein zu schwer ist, um ihn zu heben, kann man ihn rollen, ohne viel Mühe. Von dieser Beobachtung zum physikalischen Prinzip der rollenden Fortbewegung ist es ein riesiger Sprung. Ein genialer Einfall, eine noch nie gedachte Abstraktion, die aus dem bekannten System des Denkens ausbricht. Ein solcher Heureka-Moment kommt meist unerwartet, oft ganz nebenbei. Einfälle lassen sich nicht herbeizwingen. Das einzige, womit man sie fördern kann, ist freie Zeit. Deshalb ist es auch so schwierig, ein ausbruchsicheres Gefängnis zu bauen. Denn die Zeit ist auf Seiten der Häftlinge. Je weniger man ihnen zu tun gibt, um so eher kommen sie auf Einfälle, die ihre Bewacher nicht vorhersehen können. Nicht weil die dümmer wären, sondern weil ihnen die Muße fehlt.

Das Wort Muße bedeutete ursprünglich "Zustand, der einem die Möglichkeit bietet, etwas zu tun". Im Mittelhochdeutschen bezeichnete "müezecgenger" laut Wörterbuch noch ohne jede Wertung jemanden, "der durch ein standesgemäßes Vermögen berechtigt ist, kein Handwerk oder Gewerbe zu treiben". Im Jahr 1736 hatte Benjamin Franklin einen epochalen Einfall: Er erkannte, dass Zeit Geld ist, und seither steht die Muße unter Verdacht. Wer täglich zehn Schillinge verdienen könne und den halben Tag spazieren gehe, vergeude mit seiner Faulenzerei die fünf Schillinge, die er in dieser Zeit hätte verdienen können, schrieb Franklin, und er fügte hinzu: "Wer ein Mutterschwein tötet, vernichtet dessen ganze Nachkommenschaft bis ins tausendste Glied. Wer ein Fünfschillingstück umbringt, mordet alles, was damit hätte produziert werden können, ganze Kolonnen von Pfund Sterling." Das wollen wir uns gewiss nicht zuschulden kommen lassen, deshalb nutzen wir die Zeit und quetschen alles Geld aus ihr heraus. Und wir haben es weit gebracht. Warum wertvolles Zeitgeld verschwenden und ein Buch lesen, wenn man sich bei Wikipedia die Inhaltsangabe besorgen kann, und noch ein paar clevere Zitate dazu? Wir kürzen die Zeit nicht nur ab, wir vervielfältigen sie auch, nämlich durch Multitasking. Dass diese Rechnung nicht aufgeht, zeigen zwar die Unfallzahlen jener Autofahrer, die meinen, beim Linksabbiegen auch noch telefonieren zu können. Doch dies vermag unseren Wahn der mehrfachen Zeitbesetzung nicht zu bremsen. Man bedenke nur, mit wie vielen Themen ein modernes Gehirn sich jeden Tag in seinen sechzehn wachen Stunden beschäftigt! Eigentlich müsste man dabei verrückt werden.

Wissenschaft und Kunst entstammen der Welt der Muße. Die Zeit, die jemand mit Dichten oder Denken verbringt, lässt sich kaum je direkt in Geld umwandeln. Und doch arbeitet auch hier längst die Zeitverwertungsmaschine, allerdings im Leerlauf. Sie hat uns die schöne neue Welt der Koproduktionen und Evaluationen beschert. Musiker, Regisseure und Tänzer schreiben sich die Finger wund mit Dutzenden von Anträgen und Gesuchen um Fördergelder. Und in den Universitäten brüten Professoren und Studenten über Evaluierungsbogen, in denen lauter Fragen stehen, die sich durch bloßes Ankreuzen nicht recht beantworten lassen.

Wir werden immer nervöser und immer erschöpfter, ständig muss mit einem Burn-Out gerechnet werden. Für teures Geld kaufen wir uns einen Ersatz für freie Zeit, im Yoga-Studio oder einem Wellness-Tempel, stundenweise. Doch das sind Feuerwehr-Übungen. Der Verlust von echten, selbstverständlichen Freiräumen ist einer der größten Mängel unserer Gesellschaft, auch in ökonomischer Hinsicht. In öffentlichen Haushalten gilt ein Budget als verfassungswidrig, wenn es zu wenige Investitionen vorsieht. Dies müsste auch für den Umgang mit der Ressource Zeit gelten. Wer sie immer nur nutzt und verbraucht, verbaut sich den Weg nach vorn. Die Innovation des Rads hat unendlich viel mehr Zeit gespart, als seine Erfindung einst gekostet haben mag.

Sieglinde Geisel wurde 1965 in Rüti/ZH in der Schweiz geboren. Sie studierte in Zürich Germanistik und Theologie und zog 1988 nach Berlin-Kreuzberg. Nach dem Mauerfall verlagerte sich ihr Interesse in den Osten, im Auftrag der Neuen Zürcher Zeitung reiste sie für eine Reihe von Städteporträts in die Metropolen Ostmitteleuropas, lebte vorübergehend in Lublin, Polen. 1994 ging sie nach New York, wo sie für vier Jahre als Kulturkorrespondentin für die Neue Zürcher Zeitung tätig war. Im Januar 1999 kehrte sie auf eigenen Wunsch nach Berlin zurück. Als freie Journalistin schreibt sie seither über kulturelle und soziale Themen. Im Sommer 2002 erschien in der Schriftenreihe der Vontobel-Stiftung Zürich ihr Beitrag "McDonald's Village".