Was Theater alles kann

Von Ulrike Gondorf · 07.09.2012
Die Ruhrtriennale setzt in dieser Saison auf komplexe Theaterformen mit verschiedenen Genres. Kein Zufall also, dass sich die Choreografin Mathilde Monnier und der Theatermacher Jan Lauwers an zwei aufeinanderfolgenden Abenden im Spielplan des Festivals begegneten.
Mathilde Monnier, seit fast 20 Jahren Chefin des Centre Choreogaphique der Montpellier, arbeitet am Schnittpunkt von Tanz, Bildender Kunst und Performance. Sie zeigte im Salzlager der Zeche Zollverein, einem der intimeren Spielorte der Ruhrtriennale, ihre "Soapera" - entstanden in Zusammenarbeit mit dem Künstler Dominique Figarella.

Wer bei dem Titel an Seife und Oper denkt, liegt genau richtig. Zu Beginn der Aufführung wird Seifenschaum auf die Bühne gepumpt, der dort zu einem raumfüllenden Gebilde von der Form einer riesigen Sahnetorte heranwächst. Wenn das Licht angeht, glitzern und schillern die Bläschen in allen Regenbogenfarben und allmählich kommt Bewegung ins Bild. Unter dem Schaum bewegen sich vier Tänzer, richten sich auf, lassen sich wieder zurückfallen, lösen sich schließlich aus dem Gebilde und tragen riesige Schaumwolken auf den Schultern, die sich zu bizarren Gebilden wie urzeitliche Tiere formen, schwerelos in der Luft zu schweben scheinen. Es sind Bilder von magischer Kraft und Schönheit und das Zeitlupen-Tempo der Aktion setzt unser Wahrnehmungs- und Zeitempfinden völlig außer Kraft. Eine ästhetische Erfahrung, die man nicht vergessen wird. Schade nur, dass die Gesetze der Physik auch den üppigsten Schaum unaufhaltsam dahinschmelzen lassen. Und damit geht auch der "Soapera" von Mathilde Monnier und Dominique Figarella die Luft aus.

Jan Lauwers, studierter Maler, Theatergründer, Regisseur, Schauspieler, Autor, Bühnenbildner und in seiner neuesten Produktion, die bei der Ruhrtriennale uraufgeführt wurde, auch Conferencier und Musiker auf der Bühne, verkörpert das spartenübergreifenden Theater schon in seiner Person. Und es prägt auch seine "Needcompany", deren internationales Ensemble spielt, tanzt und singt - und das alles in ganz unterschiedlichen Stilen und auf eindrucksvollem Niveau.

"Marketplace 76" heißt die aktuelle Produktion der Truppe, die seit 20 Jahren mit ihren Auftritten bei renommierten Kunst- und Theaterfestival geradezu zu einem Markenzeichen der theatralischen Grenzüberschreitung geworden ist.

Thema der Arbeit von Jan Lauwers ist immer wieder die Frage nach den Formen und Möglichkeiten des Zusammenlebens, die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft. "Marketplace 76" beobachtet die Verhältnisse innerhalb einer Dorfgemeinschaft, die durch traumatische Erfahrungen miteinander verknüpft ist. Auf dem Marktplatz hat eine Explosion stattgefunden, unter den Opfern war eine ganze Schulklasse. Die verwaisten Eltern, die hilflosen Nachbarn, die Menschen die sich mit oder ohne Grund Schuld geben an dieser Katastrophe sind verstrickt in eine auswegloses Gemengelage von Trauer, Schuldgefühlen, Misstrauen, Verdrängung, Ausgrenzung. Als dann ein Pädophiler ein Mädchen verschleppt und 76 Tage lang gefangen hält, strömen die unbewältigten Gefühle von damals mit dem Entsetzen, dem Hass und den Rachewünschen gegen diese Negativfigur zusammen. Die Lage wird explosiv.

Jan Lauwers und seine "Needcompany" erzählen diese düstere Geschichte mit allen erdenklichen Mitteln der darstellenden Kunst: da gibt es dramatische Situationen und epische Berichte, Songs und Chöre bringen ein lyrisches Element ein. In Brechtscher Manier werden Verfremdungseffekte eingesetzt, Darsteller fallen aus der Rolle, technische Pannen werden inszeniert. Video, Puppenspiel und natürlich Tanz, Körpertheater und Performance kommen zum Einsatz. Und dieses vielfältige Spektrum der Mittel führt zu einer ebenso großen Bandbreite der Effekte auf den Zuschauer. Emotionale Bewegung, analytische Beobachtung, Spaß am Wortwitz und der theatralischen Ironie, Gelächter – Jan Lauwers und die unglaublich vielseitigen Mitglieder der Needcompany beweisen, dass das alles in einem Stück und beinah im selben Moment Platz hat.

Über zwei Drittel des Abends sieht man fantastisches Theater – der letzte Teil ist schwächer und überzeugt in der Schlusslösung nicht recht. Gruppenarbeiten wie diese sind meist "work in progress" und vielleicht bei der Uraufführung noch nicht ganz fertig. Der innovativen Kraft dieser Produktion tut das keinen Abbruch.

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Der Ruhrpott als Bühne - Die Ruhrtriennale im Deutschlandradio