Was soll ich tun?

Von Konstantin Sakkas |
Angesichts der atomaren Katastrophe in Fukushima müssen wir uns ernsthaft fragen, ob wir uns wirklich noch eine Energiepolitik und eine Wirtschaftsordnung erlauben wollen, die im Namen einer irrealen Größe, des Wachstums, alles riskieren: die Vernichtung menschlichen Lebens auf der Erde.
Der moderne Prozess der Zivilisation war, mit Hegels Worten, gedacht als Befreiung des Menschen "von einer unendlichen Menge endlicher Zwecke und Absichten". Die Funktionalisierung und Vereinfachung des alltäglichen Lebens, die auch durch die zivile Nutzung der Atomkraft eine eigene Dimension gewann, lässt sich aus unserem Leben nicht mehr wegdenken. Doch ist sie wirklich unerlässlich? Waren die Menschen der Antike, die weder Elektronik noch Atomkraft kannten, denn primitiver als wir? Oder, anders gefragt: Ist der Mensch in seinem Wesen sich über die Jahrtausende nicht gleich geblieben? Unsere Grundbedürfnisse, Emotionen und Gedanken sind keine anderen als die unserer Vorfahren; nur die Umwelt, die wir uns geschaffen haben, hat sich radikal verändert. Zu den natürlichen Gefahren sind unnatürliche hinzugetreten: nicht mehr nur das Leben des Einzelnen steht auf dem Spiel; sondern das Überleben der Menschheit und des Menschseins.

Der moderne Machtstaat, der mit den politischen und sozialen Anforderungen der Zeit längst nicht mehr fertig wird, ist genauso ein Auslaufmodell wie die moderne Wirtschaft mit ihrer sinnlosen Anhäufung toten Kapitals. Was nützen den großen Energiekonzernen und den Aktionären ihre Gewinne, wenn sie sie wegen nuklearer Verstrahlung gar nicht mehr ausgeben können - abgesehen davon, dass man Geld nicht essen kann? Was nützt der industrielle Tod, den zehntausende Tiere täglich sterben, wenn wir ihr Fleisch ohnehin niemals verzehren können? Was hilft uns die zunehmende Technisierung unseres Lebens, wenn wir zugleich immer weniger wissen, was wir mit dem Leben überhaupt anfangen sollen? Denn darum geht es doch schließlich: das In-der-Welt-Sein und sein transzendenter, über den Tod hinausreichender Horizont.

"Was soll ich tun?" Diese Grundfrage der menschlichen Existenz, die Immanuel Kant formulierte, stellt sich immer nur in zwei Varianten: der abstrakten, kontemplativen; oder der konkreten, krisenhaften, wie in Japan. Die wenigsten Menschen bringen die Kraft auf, jene abstrakte Frage nach dem Sinn des Lebens ernsthaft zu stellen; statt dessen lassen sie sich gehen im fieberhaften Wahn der Expansion und des Wachstums, politisch, wirtschaftlich, körperlich. Erst in der lebensbedrohenden Krise fragen wir uns wie unsere prähistorischen Vorfahren nur noch: Wie kann ich mich retten, wie kann ich überleben?

Gerade in seinem zivilisatorischen Wahn fällt der Mensch hinter die Zivilisation zurück und verspielt so das Privileg, das ihn vom Tier unterscheidet: nämlich nicht ums nackte Überleben kämpfen zu müssen, sondern frei nachdenken zu können.

Der Mensch hat sich genug ausgetobt. Fünfhundert Jahre haben wir in Europa und Nordamerika damit zugebracht, uns das Leben bequem zu machen, uns von den Schwierigkeiten des Alltags zu befreien; doch von unserer Gier und von unserer Trägheit haben wir uns noch nicht befreit. Es wird Zeit! Vielleicht war Japan nur ein Denkzettel; vielleicht gibt uns Gott oder das Schicksal, noch eine Chance. Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob wir uns wirklich noch eine Energiepolitik und eine Wirtschaftsordnung erlauben wollen, die im Namen einer irrealen Größe, des Wachstums, alles riskieren: die Vernichtung menschlichen Lebens auf der Erde.

Konstantin Sakkas, freier Autor, Jahrgang 1982, schloss 2009 das Studium in den Fächern Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin ab. Er arbeitet seit mehreren Jahren als freier Autor für Presse und Rundfunk.

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