Warum die Türkei unbequeme Denker einsperrt

Moderation: Dieter Kassel · 15.11.2011
In keinem Land der Welt sitzen so viele Journalisten in Untersuchungshaft oder verurteilt im Gefängnis wie in der Türkei. Ein Gespräch mit Peter Finkelgruen von der Vereinigung Exil-PEN über die Meinungsfreiheit unter der Regierung Erdogan und den Einfluss der internationalen Öffentlichkeit.
Dieter Kassel: Der heutige Writers in Prison Day ist allen Schriftstellern und Journalisten gewidmet, die irgendwo auf dieser Welt im Gefängnis sitzen. Und da ist es eigentlich naheliegend an diesem Tag, auf die Türkei zu blicken, denn in keinem Land der Welt, nicht mal in China oder dem Irak, sitzen so viele Journalisten in Untersuchungshaft oder sogar verurteilt im Knast wie dort. Deshalb blickt eine Veranstaltung des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland, meistens kurz Exil-PEN genannt, in Köln heute Abend auf die Situation in der Türkei und hatte dazu auch den türkischen Verleger und Journalisten Ragip Zarakolu eingeladen, der aber kann nicht kommen, denn er sitzt seit Ende Oktober in Untersuchungshaft. In unserem Studio in Köln begrüße ich jetzt Peter Finkelgruen. Er ist Mitglied des Exil-PENs und Mitorganisator der heutigen Veranstaltung. Schönen guten Tag, Herr Finkelgruen!

Peter Finkelgruen: Einen schönen guten Tag!

Kassel: Haben Sie denn in irgendeiner Form jetzt aktuell Kontakt zu Zarakolu und wissen, wie es ihm geht?

Finkelgruen: Also wir haben gestern Abend seinen Anwalt, seinen Verteidiger gesprochen – ich kann das jetzt sagen: Anstelle von Ragip Zarakolu wird sein Verteidiger heute Platz nehmen auf dem Stuhl in der Veranstaltung – gesprochen, und er hat uns berichtet, dass er ihn beim ersten Haftprüfungstermin vor einer Woche gesehen hat, dass Ragip Zarakolus Moral ungebrochen war, dass er guten Mutes war. Er konnte ihm Bücher geben, und Ragip Zarakolu konnte auch den Besuch eines seiner Söhne empfangen. Sein anderer Sohn, der ein paar Wochen vorher verhaftet wurde, ist aber nicht, wie sie gehofft haben, im gleichen Gefängnis, sondern der ist in ein sehr weit entferntes, am anderen Ende der Türkei eingeliefert worden.

Kassel: Ragip Zarakolu ist Ende Oktober zusammen mit ungefähr 40 anderen Leuten verhaftet worden. Was wirft man ihm denn eigentlich vor?

Finkelgruen: Offiziell gibt es noch gar keine Anklage. Und solange keine Anklage vom Gericht zugelassen wurde, hat auch die Verteidigung keine Möglichkeit der Akteneinsicht. Sie können nur aus den Vernehmungen, die stattfinden, entnehmen, dass es um das altbewährte Schlagwort und den Vorwurf der Förderung des Terrorismus geht. Ragip Zarakolu hat ja schon seine Erfahrungen mit der türkischen Justiz gemacht: Jedes Mal ging es um seine Befürwortung – ich sage jetzt mal – kurdischer Bestrebungen zumindest nach kultureller Autonomie, aber auch sein Eintreten für die Anerkennung des Genozids an den Armeniern, das sind alles Straftatbestände in der Türkei.

Es gibt einen sehr interessanten anderen Straftatbestand – ob der ihm auch vorgeworfen wird, weiß ich nicht. Wir hatten ja im Vorlauf zu dieser Veranstaltung einen anderen Autor eigentlich im Zentrum unseres Interesses, nämlich Ahmed Sik, der seit März 2011 in Haft ist, und man muss sich vorstellen: Dessen noch nicht veröffentlichtes Manuskript ist verboten, aber es ist nicht nur verboten, der Besitz einer Kopie dieses Manuskripts steht unter Strafandrohung, also wirklich für Autoren und ich denke, auch für die meisten Leser eine erbärmliche Vorstellung, ein Manuskript, das noch gar nicht erschienen ist, zu verbieten und unter Strafe zu stellen – den Besitz. Also: Ahmed Sik stand im Zentrum des Interesses, und dann wollten wir, dass Ragip Zarakolu uns einen Überblick gibt über die Situation der Autoren in der Türkei, und nun ist er selber in Haft und ist einer der Fälle, um die sich der internationale PEN und Writers in Prison kümmert.

Wir haben auf der gegenwärtigen Case List des internationalen PEN – also vor dieser letzten Verhaftungswelle hatten wir 13 Namen von Inhaftierten, und 42 Autoren, die vor Gericht stehen, wo noch teilweise Anklage erhoben wird. Diese Zahl wird sich jetzt wahrscheinlich verdoppeln. Und unter den 46, die vor zwei Wochen verhaftet wurden, sind auch etliche Autoren.

Kassel: In der Vergangenheit, was sind denn das für Erfahrungswerte, wenn es dann zu einem Urteil kommt? Wie lange müssen die Autoren und Journalisten dann in der Regel ins Gefängnis?

Finkelgruen: Also wir haben die Erfahrung, dass es unterschiedlich ist. Es hat sehr viel damit auch zu tun, wie sehr die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit mobilisiert werden kann. Wir hatten ja – das war ursprünglich der Auslöser überhaupt für uns, uns in diesem Jahr der Türkei zuzuwenden, war der Fall unseres Mitglieds Dogan Akhanli, der in der Türkei verhaftet wurde und vor Gericht gestellt wurde, dann entlassen wurde, als nun wirklich der Protest auch hier in Deutschland sehr massiv war. Inzwischen ist das Verfahren gegen ihn eingestellt worden, das heißt, er ist freigesprochen worden. Also ich glaube, es hat sehr viel wirklich mit dem Grad an Aufmerksamkeit und auch an politischer Intervention zu tun.

Kassel: Nun kann man ja nicht gerade sagen, Herr Finkelgruen, dass es keine politischen Kontakte zwischen Deutschland und der Türkei gäbe. Wenn – wie das jetzt gerade aus dem Anlass 50 Jahre Anwerbeabkommen zum Beispiel ja geschehen ist – wenn Bundeskanzlerin Merkel, wenn Außen- und andere Minister mit türkischen Politikern reden, und es gibt gerade keinen prominenten, aktuellen Fall, spielt dann eigentlich Pressefreiheit, spielt dann eigentlich die Inhaftierung von Autoren und Journalisten eine Rolle?

Finkelgruen: Ich glaube, das müssten wir unseren Außenminister fragen. Aber ich denke schon, dass das Auswärtige Amt sich diesem Thema widmet, wie intensiv dann die Bemühungen der Politiker sind in den Begegnungen mit ihren türkischen Kollegen, kann ich jetzt so nicht sagen.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit Peter Finkelgruen vom deutschen Exil-PEN. Der deutsche Exil-PEN veranstaltet heute Abend in Köln zum Writers in Prison Day eine Veranstaltung, in der es vor allen Dingen um die Türkei geht, wo es besonders schlecht um die Rede- und Schreibfreiheit bestellt ist. Wie hat sich denn das, Herr Finkelgruen, eigentlich entwickelt? Denn wenn man die Auslandspresse, zum Beispiel die deutsche Presse sieht, dann gibt es ganz unterschiedliche Angaben. Die einen sagen gerade, Erdogan habe die Lage verschärft, weil er grundsätzlich alle Menschen, die nicht auf seiner Seite sind, aus dem Weg räumen will, andere reden aber auch davon, ein bisschen mehr Freiheit für Schriftsteller und Journalisten gebe es in den letzten Jahren. Was ist wahr?

Finkelgruen: Also ganz sicher muss man sagen, dass man die Türkei hier nicht irgendwie so im Schwarzweißschema zeichnen kann. Zweifellos, die Türkei ist ein demokratisches Land, aber es gibt offensichtlich widerstrebende Kräfte. Die werden jetzt der Einfachheit halber – wird sozusagen die Armee auf der einen Seite gezeigt und die Polizei beinahe als eine Gegenkraft oft gezeichnet. Da fallen wohl besonders Autoren sozusagen in der Mitte diesen Rivalitäten zum Opfer. Es war wohl so, dass die Regierung Erdogan einige Liberalisierungstendenzen gezeigt hatte in den letzten Jahren, auch gerade beispielsweise in der Kurdenfrage, und dann plötzlich ist das in den letzten Monaten umgekippt, und es zeigt sich eine Verhärtung der Linie der Erdogan-Regierung. Und wie weit das gehen wird, kann ich nicht sagen.

Kassel: Es gibt ja noch ein weiteres, nicht ganz durchschaubares Phänomen, was Prozesse auch gegen Journalisten und Schriftsteller in der Türkei angeht: Das ist ein Geheimbund, den es gibt, oder auch nicht – ich bin mir da, nachdem ich viel darüber gelesen habe, noch nicht so ganz sicher. Auf jeden Fall gehen da aber auch viele Richter und Staatsanwälte offenbar davon aus, dass es Ergenekon – so heißt das nämlich – wirklich gibt. Worum geht es denn da, und was haben Autoren und Journalisten damit überhaupt zu tun?

Finkelgruen: Also ich bin da wahrscheinlich nicht sehr viel informierter als Sie. Es soll diese Putschisten-Gruppe, diese mutmaßliche Putschisten-Gruppe geben. Es wird gesagt, das seien Kreise des Militärs, aber das ist ein Teil dieser Machtkämpfe zwischen – ich sage es jetzt mal versimpelt – Kemalisten, also die laizistischen Militärkräfte auf der einen Seite, und religiös motivierten Kräften auf der anderen Seite. Da haben wir die Gülen-Bewegung, und dann darüber die AKP, also die Regierungspartei – das sind alles widerstrebende Kräfte.

Kassel: Was bedeutet denn diese Halb-Demokratie, wie ich es mal leicht überspitzt nennen will in der Türkei, und dieses gewisse Maß an Pressefreiheit, das es ja gibt, für so etwas wie diese berühmte Schere im Kopf? Denn sehr oft ist es ja in Ländern, die keine klassische, harte Diktatur sind, in denen alles verboten ist, ist es ja in Ländern mit diesem ganz weichen System noch viel schlimmer, weil es wirklich dann auch die Nicht-mehr-Bereitschaft angeht, über gewisse Dinge zu berichten.

Finkelgruen: Also ich habe gestern eine Beobachtung gemacht, dass der Verteidiger von Ragip von Landsleuten hier gefragt wurde: Hast du keine Angst zurückzufahren? Wir hören Gerüchte, dass es weitere Verhaftungen geben soll, und du könntest ja auch verhaftet werden. Und die Antwort darauf war: Ja, das mag so sein, aber ich werde meine Pflicht erfüllen.

Kassel: Zum heutigen Writers in Prison Day macht der Exil-PEN – deshalb reden wir beide ja miteinander – heute Abend in Köln im Sendesaal des WDR diese Veranstaltung. Nächstes Jahr wieder Türkei oder ist denn doch – weil wir haben ja gesagt, die Türkei ist im Moment am schlimmsten, was das angeht, das heißt nicht, dass es nicht andere schlimme gibt –, ist die Türkei dann nächstes Jahr wieder raus aus Ihrem Fokus?

Finkelgruen: Raus aus dem Fokus wird die Türkei nicht sein. Wir handhaben das so, dass wir jedes Jahr uns ein Land oder ein Gebiet vornehmen, das besonders aktuell ist im traurigen Sinne. Ich habe das Gefühl, dass wir im Nahen Osten bleiben werden.

Kassel: Sagt Peter Finkelgruen. Er ist Mitglied des deutschen Exil-PENs und Mitorganisator der diesjährigen Veranstaltung heute Abend in Köln. Herr Finkelgruen, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.

Finkelgruen: Ich danke Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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