Waren die Brücke-Maler "pädophil”?

Von Volkhard App · 23.05.2010
Vor der Ausstellung "Der Blick auf Fränzi und Marcella. Zwei Modelle der Brücke-Künstler Heckel, Kirchner und Pechstein" gibt es Diskussionen über kindliche Lieblingsmodelle der deutschen Expressionisten.
Drei "leibhaftige” Künstler und zwei kleine Mädchen: Fränzi war fast 9 Jahre alt, als sie 1909 zu den "Brücke”-Malern kam, um deren Modell zu werden. Marcella folgte etwas später, war damals über 14. Bis zum Frühjahr 1911 wurden die beiden Kinder von Erich Heckel, Max Pechstein und Ernst Ludwig Kirchner auf vielen Zeichnungen und Gemälden verewigt.

In Hannover, wo man sich auf diese beiden Figuren konzentriert, hat man aus der großen Menge rund 150 Exponate ausgewählt - auch einige mit jungen Mädchen, die im Titel fälschlich Fränzi und Marcella genannt werden, wahrscheinlich um die Blätter besser auf dem Kunstmarkt verkaufen zu können.

Die Maler hatten an den beiden vor allem ein künstlerisches Interesse - auf diese Feststellung legt Kurator Norbert Nobis Wert, noch bevor er auf plakative Fragen antworten mag. Das Aktzeichnen war für die "Brücke”-Gruppierung von eminenter Bedeutung. Und man wollte keine starr posierenden Frauen, sondern natürliche Modelle in Bewegung. Allein das sprach schon für Fränzi und Marcella. Norbert Nobis vom Sprengel Museum:

"Die Natürlichkeit der Bewegung war sicher sehr wichtig. Ein Großteil dieser Zeichnungen und auch Gemälde wurde ja nicht in den Ateliers hergestellt, sondern an den Moritzburger Teichen, wo die Künstler in den Sommermonaten von 1909 und 1910 hingefahren sind und wo sie wahrscheinlich etliche Wochen verbracht haben, um das Leben in der Natur zu studieren. Also die Kindlichkeit im Zusammenhang mit der Natur und mit Ursprünglichkeit - dazu gehörte auch Nacktheit-, war ein wichtiges Element dieser Kunst."

Hinweise auf ein sexuelles Interesse der drei Künstler hat der Kurator bislang nicht gefunden. Unter dem Eindruck der gegenwärtigen Diskussion studieren er und seine Mitarbeiter noch einmal Briefe, Tagebücher und selbst Notizen in den Skizzenbüchern. Wirklich keinerlei Zweifel? Dabei wurden die Mädchen doch auch mit gespreizten Beinen dargestellt.

Auf einige drastische Arbeiten, zum Beispiel eine Kohlezeichnung von 1910,- "Fränzi auf dem Sofa” -, hat Felix Krämer, der Verantwortliche der aktuellen Kirchner-Schau im Frankfurter Städel Museum, von vornherein verzichtet, um keine dubiosen Voyeursinteressen zu bedienen. Im Katalog abgebildet ist allerdings eine weitere auffällige Arbeit auf Papier: da sehen wir die nackte Fränzi, die auf dem Rücken eines ebenfalls unbekleideten Mannes reitet.

"Wir stürzten uns auf die Natur in den Mädchen” heißt es im Davoser Tagebuch Kirchners, und der malte einst auch das inzwischen verschollene Bild "Fränzi mit Liebhaber”.

Norbert Nobis: "Dass man sich in die Natur der Mädchen stürzt, bedeutet nicht, dass man sie sexuell verführt. Die Natur der Mädchen kann genauso gut die Zwanglosigkeit der Bewegung sein. Es hat sicherlich ein Bild Kirchners mit dem Titel 'Fränzi mit Liebhaber' gegeben. Die Frage ist nur, wie wir das deuten müssen.

Das Wort Liebhaber zielt ja nicht unbedingt auf ein sexuelles Verhältnis, sondern kann auch bedeuten, dass man jemanden lieb hat, oder wie auch immer. Ich kann auch darin noch keinen Beleg dafür sehen, dass es sexuelle Kontakte gegeben hat."

Nach verdächtigen Stellen in Briefen und auf Tagebuchseiten wurde in letzter Zeit mancherorts eifrig gefahndet: gerade die Kunstzeitschrift "Art” hat sich damit in ihrer Mai-Ausgabe hervorgetan:

"Ein Zitat, das in der Mai-Ausgabe steht, aus dem etwas herausgelesen werden könnte, ist ganz einfach eine Fälschung. Da wird in einem Kirchner-Zitat das Wort Fränzi eingeführt, das im Original nicht zu lesen ist."

In streng-positivistischer Manier werden im Sprengel Museum alle möglichen Hinweise auf sexuellen Missbrauch hin abgeklopft und möglichst widerlegt. So führt man auch den Umstand, dass die jungen Mädchen auf einigen Bildern auffällig geschminkt sind, auf künstlerischen Eigensinn zurück, der sich bekanntlich erheblich von der Wirklichkeit entfernen darf.

Mögen sich all diese Details und Indizien in anderen Köpfen zu einem alarmierenden Gesamtbild fügen - in Hannover ist man bemüht, einen Hinweis nach dem anderen zu entkräften. Keine Spur von sexuellen Übergriffen:

"Es gibt sogar ein paar Hinweise, die dagegen sprechen. 1926 hat Kirchner auf seiner Deutschlandreise Fränzi noch einmal getroffen. Sie war damals 26 Jahre alt. Er schreibt, Fränzi habe gesagt, die Erinnerung an ihre Zeit bei den Brücke-Künstlern sei ihr das Liebste im Leben. Das spricht nicht unbedingt dafür, dass jemand sexuell missbraucht worden ist."

Exzesse moderner Künstler – vom Drogenrausch bis zur Sexorgie - wurden immer wieder dem unbürgerlichen Lebenswandel der genialen Selbstdarsteller zugerechnet und durch die Aussage relativiert, derart kreative Menschen seien eben keine Heiligen. Ein gehöriges Maß an Unbürgerlichkeit wurde und wird von diesen Helden und Antihelden ja auch erwartet - die gehört geradezu zu ihrer Grundausstattung und macht ihren gesellschaftlichen Unterhaltungswert aus: der von Obsessionen beherrschte Meister ist da Schreckgespenst und Wunschfantasie in einem, Gegenbild des in seinem Alltag gefangenen, der Moral verpflichteten Bürgers. Ein möglicher Kindesmissbrauch aber markiert genau die Grenze des allgemein Tolerierten - erst recht in unserer durch Enthüllungen und Debatten sensibilisierten Gegenwart.

Deshalb werden sich auf die Ausstellung im Sprengel Museum die Blicke richten. Das könnte den Veranstaltern nur recht sein - aber dieses inhaltlich verlagerte Interesse behagt ihnen offenbar nicht. Seit Jahren wird diese Ausstellung vorbereitet: akribisch forscht man, frei von spekulativen Hintergedanken, nach den Biografien von Fränzi und Marcella und legt großen Wert auf die stilistischen Veränderungen der Künstler, die sich in jenen Jahren bei den Porträts angedeutet hatten.

Da möchte man auf sensationsheischende Fragen doch ganz gerne verzichten:

"Das Interesse der Öffentlichkeit möchte ich gerne auf die ästhetische Schönheit der Bilder gerichtet sehen und auf die neuen Erkenntnisse, die mit der Ausstellung verbunden sind. Wenn die rüber kämen, wäre es mir viel wichtiger als die Frage, ob hier sexuelle Kontakte stattgefunden haben oder nicht."