"Von einem liberalen Profil nicht mehr viel zu erkennen"

Heinrich August Winkler im Gespräch mit Frank Meyer · 24.09.2013
Die FDP sollte sozialliberale Inhalte reaktivieren und sich für andere Koalitionen als die mit der Union öffnen, sagt der Historiker Heinrich August Winkler. Die Rolle als "Funktionspartei" in einer schwarz-gelben Regierung und eine große Beliebigkeit bei den Themen hätten die Liberalen in die Krise geführt.
Frank Meyer: Konservatismus, Sozialismus, Liberalismus, das sind die drei großen politischen Ideologien, die sich vor dem 20. Jahrhundert in Europa entwickelt haben. In der deutschen Parteienlandschaft hat die FDP den Liberalismus für sich reklamiert. Nun hat es diese Partei zum ersten Mal nicht in den Bundestag geschafft. Liegt das daran, dass die Deutschen schon immer mit dem Liberalismus gefremdelt haben, anders als manche europäischen Nachbarn? Das besprechen wir mit Heinrich August Winkler, dem Historiker, der sich mit deutschen Sonderwegen ausführlich auseinandergesetzt hat, vor allem in seinem Buch "Der lange Weg nach Westen". Guten Tag, Herr Winkler.

Heinrich August Winkler: Guten Tag, Herr Meyer.

Meyer: Sind Sie denn traurig über das Verschwinden der "FDP. Die Liberalen" aus dem deutschen Bundestag?

Winkler: Es sind gemischte Gefühle, die ich habe. Auf der einen Seite steht die überaus negative Bilanz der FDP in den letzten vier Jahren, wo von einem liberalen Profil nicht mehr viel zu erkennen war und große Beliebigkeit den Eindruck bestimmte. Auf der anderen Seite denke ich an die Leistungen des deutschen Liberalismus, gerade auch in der Geschichte der Bundesrepublik, von der Durchsetzung der Marktwirtschaft bis zur Ermöglichung der neuen Ostpolitik unter Willy Brandt. Und dazu gehören auch die soziale Öffnung der FDP in den 60er-Jahren und ihre Fähigkeit, als Partner für unterschiedliche politische Lager zur Verfügung zu stehen, eine Fähigkeit, die die FDP in den letzten Jahren wohl bewusst preisgegeben hat.

Meyer: Aber Sie würden sagen, für frühere Jahrzehnte stand die FDP tatsächlich für einen klassischen Liberalismus, wie er sich im 19. Jahrhundert entwickelt hatte?

Winkler: Es war ein Liberalismus, der sich stark vom klassischen Liberalismus unterschied. Wenn man an die Zeit zurückdenkt, in der Ralf Dahrendorf und der Generalsekretär der FDP Flach die sozialliberale Öffnung der FDP schafften, dann war das auch gegenüber dem 19. Jahrhundert etwas Neues. Und genau das hat die FDP dann in der Zeit der sozialliberalen Koalition zu einem unentbehrlichen Partner für die innenpolitische wie für die außenpolitische Erneuerung der Bundesrepublik gemacht.

Meyer: Aber trotz dieser Unentbehrlichkeit – es gibt ja diese interessante Diskrepanz, dass die FDP ja eigentlich die Regierungspartei in Deutschland ist, länger an der Regierung beteiligt war als SPD oder Union, aber andererseits immer eine Kleinpartei geblieben ist mit Wahlzahlen um die zehn Prozent, wenn es hoch stand. Warum ist die FDP eigentlich nie zu einer Volkspartei geworden? Liegen die Ursachen für die Schwächen des Liberalismus in Deutschland schon in der Gründungsphase im 19. Jahrhundert?

Winkler: Die Liberalen waren im 19. Jahrhundert zeitweilig durchaus eine Volkspartei, das gilt auch noch für die Nationalliberalen der frühen Bismarck-Zeit. Aber richtig ist, die Revolution von 1848/48 hat den deutschen Liberalismus überfordert. Und das Scheitern dieser Revolution in der Hauptsache wurde zu einer schweren Hypothek der deutschen Liberalen. Es ging 1848 um Einheit und Freiheit. Die Liberalen konnten gar nichts anderes, als beide Ziele gleichzeitig zu fordern, den Nationalstaat und den Verfassungsstaat. Sie haben damals beides nicht erreicht und dann unter Bismarck die Einheit im Sinne einer Revolution von oben, aber weniger Freiheit, als sie erstrebt hatten. Und bis zum Ende des Kaiserreiches hat zumindest der rechte Flügel des deutschen Liberalismus nicht mehr zu den fortschrittlichen Kräften gezählt, die auf eine Parlamentarisierung dieses Systems hindrängten.

Heinrich August Winkler, Historiker, aufgenommen während der ARD-Talksendung "Anne Will" in den Studios Berlin-Adlershof.
Heinrich August Winkler© picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler
"Es gab die Linksliberalen - es gab die Rechtsliberalen"
Der Liberalismus sei die Geschichte seiner Spaltungen, hat Friedrich Naumann mit Blick auf Deutschland bemerkt. Und da hatte er Recht. In der Weimarer Zeit dauerte dieser Zustand der Spaltung an. Es gab die Linksliberalen, zu denen damals schon Theodor Heuss gehörte, es gab die Rechtsliberalen um Gustav Stresemann. Am Ende der Weimarer Republik waren beide Parteien, die Deutsche Volkpartei rechts, die Deutsche Demokratische Partei oder später Deutsche Staatspartei links, Splitterparteien geworden mit einem Prozent Anteil etwa an der Wählerschaft. Eine der Ursachen war, die Liberalen hatten in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, keine überzeugende Antwort auf die Herausbildung der Massengesellschaft, auf die Soziale Frage gefunden. Und auch das führt zu dem dramatischen Niedergang in der Weimarer Republik im Zeichen der Weltwirtschaftskrise.

Dass sich das nach 1945 änderte, das lag auch an der ganz veränderten ökonomischen Situation. Im Zeichen der Prosperität hat der deutsche Liberalismus eine Art Renaissance erlebt, und er hat nach 1945 seine Spaltung überwunden. Das ist ein ganz entscheidender Vorgang. Die FDP umfasste den ehemaligen nationalliberalen und den ehemaligen demokratischen Flügel des deutschen Liberalismus.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit dem Historiker Heinrich August Winkler über Schwächen und Chancen des Liberalismus in Deutschland angesichts des Ausscheidens der FDP aus dem Bundestag. Und was Sie gerade angesprochen haben, dieses Wiedererstarken des Liberalismus nach dem Zweiten Weltkrieg, hat das auch zu tun mit einem Re-Import von liberalen Ideen nach dem Krieg, durch den Einfluss der Alliierten in Deutschland?

Winkler: Ja. Die deutsche Nachkriegsdemokratie ist, anders als die Weimarer Demokratie, sehr stark angelsächsisch geprägt. Sie ist strikt eine repräsentative Demokratie. Der parlamentarische Rat hat unter maßgeblicher Beteiligung der Liberalen – ich denke auch an Theodor Heuss – die Lehren aus der gescheiterten Weimarer Republik gezogen, und dazu gehörte in der Tat die Rückbesinnung auf die bewährten Formen liberaler Demokratie, wie man sie aus den angelsächsischen Ländern kannte.

In der Zeit der alten Bundesrepublik kann man wirklich von einer Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens sprechen, und daran hat die FDP ihren Anteil, auch wenn man nicht übersehen darf, dass die FDP der 50er-Jahre in einigen Landesverbänden, etwa in Nordrhein-Westfalen, eine Altlast von Nazis in ihren Reihen trug, die die Partei in eine schwere Krise gestürzt haben. Daraus hat sich die FDP befreit, und mit den "Freiburger Thesen" der sozialliberalen Öffnung entwickelt sich die FDP eben zu diesen nicht mehr durch enge Klasseninteressen in ein enges politisches Lager gesperrten Liberalismus.

Das ist aus meiner Sicht die große Zeit des deutschen Nachkriegsliberalismus gewesen, als die Freien Demokraten erst die neue Ostpolitik unter der Regierung Brandt-Scheel maßgeblich mitgetragen haben. Aber man kann der FDP sicher auch attestieren, dass sie in der Zeit der Wiedervereinigung, in der Koalition mit der christlich-demokratischen, christlich-sozialen Union unter Helmut Kohl einen maßgeblichen Anteil hatte. Die FDP hat unter unterschiedlichen politischen Koalitionen für die Geschichte der Bundesrepublik eine überaus wichtige Rolle gespielt.

Und erst die Vereinseitigung zur Funktionspartei, die nur noch sich eine politische Bündniszusammenarbeit mit den Unionsparteien vorstellen konnte, hat in die Krise geführt, an deren Ausgang der 22. September dieses Jahres steht. Eine Zukunft hat der politische Liberalismus in Deutschland aus meiner Sicht nur, wenn er auch eine starke sozialliberale Dimension reaktiviert und wenn auch die politischen Optionen sich nicht auf die Zusammenarbeit mit dem eher konservativen Lager beschränken.

Meyer: Es gibt ja auch die These, Herr Winkler, dass die liberale FDP auch deshalb so schwach sei, weil die anderen Parteien das liberale Feld mit besetzen. Also die Grünen sowieso, die SPD der Hartz-IV-Reform und die modernisierte Angela-Merkel-Union. Was halten Sie von der These?

"Alle liberalen Parteien hatten große Probleme"
Winkler: Diese These ist sicherlich richtig, die gilt allerdings nicht nur für die FDP, die gilt für alle liberalen Parteien. Auch in Großbritannien sind die Liberalen schon in den frühen 20er-Jahren als Regierungspartei ausgeschieden. Sie haben noch einmal unter Churchill im Kriegskabinett während des Zweiten Weltkriegs mitgewirkt, und dann erst wieder seit 2010 unter Cameron. Auch in Großbritannien hat der Liberalismus seine ganz große, seine quasi volksparteiliche Epoche mit dem Ersten Weltkrieg hinter sich gelassen. Das ist nicht ein spezifisch deutsches Phänomen. Alle liberalen Parteien hatten große Probleme, sich auf die Klassenpartei, auf die Heraufkunft des Proletariats, auf die Soziale Frage einzustellen, und überzeugende Antworten haben die wenigsten gefunden.

Meyer: Aber bräuchte man für die Zukunft des Liberalismus in Deutschland, braucht man dafür eine eigenständige liberale Partei?

Winkler: Wenn alle anderen Parteien die Bürgerrechte als ihr ureigenstes Anliegen ansehen, auch mit Blick auf den Datenschutz, was ja ein sehr aktuelles Thema ist, dann wird es für die Liberalen schwer nachzuweisen, dass sie auch weiterhin als Partei benötigt werden. Die FDP wird als Partei nur dann eine Zukunft haben, wenn sie sowohl eine Partei der Bürgerrechte wie einer liberalen Ausgestaltung der Idee der sozialen Gerechtigkeit wird. Und das verlangt heute eine fast schon Neuerfindung der FDP. Ob das die FDP unter neuer Führung schafft, das kann heute niemand vorhersagen, aber es wäre sicher zu früh, sie für immer abzuschreiben. Der Erneuerungsprozess ist ihre Herausforderung. Und vielleicht nutzt sie diese Chance.

Meyer: Die Zukunft des Liberalismus in Deutschland und seine Geschichte. Darüber haben wir gesprochen mit dem Historiker Heinrich August Winkler.

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