Von der Freiheit strapaziert

Von Cora Stephan |
Je länger ich dieses Wort anschaue, desto fremder schaut es zurück. Denn was kann damit gemeint sein? Die bloße Unart, anderen triumphierend und selbstgerecht die eigenen Tugenden vorzuhalten? Oder das eiserne Beharren darauf, dass die individuelle Freiheit und die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen über allem steht?
Und was wäre an diesen "westlichen Werten" falsch, die manch einer nur noch in Anführungszeichen setzt? Anders gefragt: Wie würden die Helden des Feuilletons wohl reagieren, wenn man die deutsche Debatte über die Tragödie von Kundus "Menschenrechtsfundamentalismus" nennen würde?

Spielen wir das doch einmal durch: Die zu Recht empfindliche deutsche Öffentlichkeit insistiert darauf, dass nichts den Tod von Menschen rechtfertige – wohlgemerkt: nicht nur den Tod Unbeteiligter, sondern auch gegnerischer Kämpfer. Das "Ausschalten" (oder gar "Vernichten") feindlicher Taliban entspricht unserem Rechtsverständnis nicht, denn das kennt keine Todesstrafe – und vor allem keine ohne vorheriges Urteil nach Recht und Gesetz.

Ehrt uns das etwa nicht? Der Realität der Auseinandersetzungen in Afghanistan trägt es allerdings nicht Rechnung. Denn schlaue Gegner haben diese Empfindlichkeit als eine Schwäche des Westens längst verbucht und als unschätzbaren Vorzug in ihr Kalkül aufgenommen. Um die Achillesferse des Westens wissend, benutzt man Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Auf den westlichen Aufschrei über "Kollateralschäden" kann man sich verlassen.

Das sorgt für militärische Unbeweglichkeit in Afghanistan, wo sich die regulären Armeen angesichts der kritischen Öffentlichkeit zu Hause durch ein umständliches und zeitraubendes Prozedere abzusichern versuchen. Soldaten, von Demokratien entsandt, verfügen nicht über jene Nonchalance, die den Gegner über Leichen gehen lässt.

Tja, auf der Gegenseite ist man nicht selten fanatisch, aber dafür wenigstens garantiert nicht "menschenrechtsfundamentalistisch". Denn im islamischen Wertehimmel sind das Individuum und seine Rechte den Zielen und Interessen des Kollektivs untergeordnet.

Schon deshalb ist der westliche "Menschenrechtsfundamentalismus" mitnichten eine "Siegerreligion", wie es jüngst in der "Süddeutschen Zeitung" hieß, sowenig Muslime Opfer sind. Kämpferischen Islamisten gilt das muslimische Kollektiv höchstens aus taktischen Gründen als Opfer, weil man damit bei den gutwilligen Kreisen im Westen Punkte macht.

Auch den Hang zur Selbstkritik, auf den sich viele etwas einbilden, halten andere für Schwäche – vor allem die in Deutschland nicht selten mit Selbstekel gepaarte Variante, eine luxurierende Verachtung der eigenen Werte und Lebensgrundlagen. Für eine Kultur, die das Kollektiv über das Individuum stellt und in der Würde, Ehre und Respekt eine große Rolle spielt, ist diese Selbstverachtung ein Gottesgeschenk. Welcher muslimische Hassprediger, welcher einfach nur kulturüblich stolze muslimische Mann empfände keine Genugtuung, wenn er hört, wie wenig ernst sich die Gegenseite nimmt, wo man neuerdings von Sehnsucht nach tiefer Religiosität sprechen hört, vom Bedürfnis nach einer neuen Sittlichkeit, vom Wunsch nach der Wärme eines sozialen Zusammenhangs, der nicht der kühlen Zivilität von Rechtsnormen und Marktverhältnissen unterliegt? Wo Frauen im Ganzkörperschleier Befreiung erkennen und Männer sich aufführen, als ob sie das Joch des Feminismus abstreifen müssten?

Mag sein, dass sich hier die Sehnsucht des von seiner Freiheit strapazierten Individuums nach paradiesischen Urzuständen offenbart. Allerhand Debatten über Gier und Bereicherungslust, jene "Auswüchse" einer Marktwirtschaft, die manch einer gar für systemimmanent hält, legen das nah.

Doch warum stehen wir nicht zum unauflöslichen Dilemma, dass Freiheit unverzichtbar ist, aber auch frostig sein kann? Die auch im europäischen Westen noch nicht lange errungene Freiheit des Individuums, sein Glück auf die ihm gemäße Weise in die eigene Hand zu nehmen, ist eine mächtige Triebfeder. Ja, sie hat ihre hässlichen Seiten, doch weit hässlicher ist die Armut, die sich paternalistischen Sozialstrukturen verdankt, in denen das Kollektiv alles, das Individuum nichts ist. Wo das Individuum nichts gewinnen darf, wird lediglich die Armut sozialisiert.

Der Westen hat eine Achillesferse: das Individuum und dessen Rechte. Diese Menschenrechte brauchen im fundamentalen Sinne Schutz – meinetwegen kann man das auch "Menschenrechtsfundamentalismus" nennen.


Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte", "Die neue Etikette" und "Das Handwerk des Krieges".