Von Auschwitz bis Guantanamo

Alan Kramer im Gespräch mit Joachim Scholl · 14.04.2011
In Berlin debattieren Wissenschaftler auf einem Symposium über die "Welt der Lager". Der Historiker Alan Kramer erläutert im Gespräch, dass die ersten so genannten Konzentrationslager von den Spaniern in den 1890er-Jahren auf Kuba errichtet wurden.
Joachim Scholl: Es ist ein düsterer Terminus des 20. Jahrhunderts, das Lager. Arbeitslager, Konzentrationslager, Vernichtungslager – Millionen Menschen haben dort gelitten, Millionen sind gestorben, und immer noch gibt es sie: die Internierungslager, die Auffanglager, die Flüchtlingslager. Jetzt beschäftigen sich erstmals Wissenschaftler auf einem internationalen Symposion in Berlin mit dieser Welt der Lager, initiiert von dem Historiker Alan Kramer. Er ist bei uns jetzt im Studio – guten Morgen, Herr Kramer!

Alan Kramer: Guten Morgen.

Scholl: Wann hat es eigentlich angefangen, dass Menschen andere Menschen in Lager gepfercht haben? Wann und wo gab es die ersten Lager?

Kramer: Die ersten Lager gab es bei den ersten Kriegen, da gab es schon Heereslager. Aber Lager für Gefangene, für Kriegsgefangene, für Zivilgefangene, die gab es in der Tat erst im 19. Jahrhundert. Natürlich gibt es eine längere Geschichte der Kriegsgefangenschaft, die geht auch bis in die früheste Zeit der Kriege zurück, aber richtige Lager mit Stacheldraht, das ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts.

Und da könnte man sagen, mit dem Terminus Konzentrationslager, das entsteht in den 1890er-Jahren, und zwar auf Kuba, errichtet von den Spaniern als Mittel gegen die aufständische kubanische Bevölkerung. Man hat große Teile der Bevölkerung in solche Lager gesperrt, um sie zu trennen von der kämpfenden kubanischen Bevölkerung, um den Kämpfern die Lebensgrundlagen zu entziehen.

Scholl: Die Briten haben im Burenkrieg ebenfalls Lager errichtet in Südafrika, was waren das für Concentration Camps?

Kramer: Ja, das war ein sehr interessanter internationaler Lernprozess, die Briten haben das wohl den Spaniern abgeschaut und haben eine sehr ähnliche Kriegsstrategie verfolgt gegen die burische Bevölkerung, haben die Zivilbevölkerung in Lager eingesperrt, um eben den burischen Kämpfern die Lebensgrundlagen, die Lebensmittel, den Zugang zu den Waffen zu verwehren. Und das Interessante ist, das waren – wir müssen wirklich sehr klar unterscheiden - wenn wir heutzutage Konzentrationslager sagen, denken wir sofort Auschwitz. Wir denken sofort Vernichtungslager.

Das waren keine Vernichtungslager, weder auf Kuba, noch in Südafrika. Die Lebensbedingungen waren allerdings wirklich sehr schlecht, die sanitären Bedingungen waren ganz schlimm, waren ganz rudimentär. Es gab schlechte Verwaltung, und es sind sehr viele Zivilisten, sowohl auf Kuba als auch in Südafrika, umgekommen. Das hat dazu geführt, im Falle Großbritanniens jedenfalls, dass es Proteste seitens der liberalen Öffentlichkeit im Parlament gegeben hat. Es gab parlamentarische Anfragen, es gab Untersuchungen und schließlich wurden die Bedingungen in den Lagern reformiert und verbessert.

Scholl: Sie haben schon das Wort Lernprozess in den Mund genommen, Herr Kramer. Da zuckt man ja unwillkürlich zusammen, aber wenn man sich die Entwicklung der Lagersysteme im 20. Jahrhundert anschaut, dann könnte man ja wirklich von Lernprozessen sprechen. Das heißt, die einen schauen es sich von den anderen ab. Waren das denn schon die Vorboten für den Schrecken und das Grauen in den sowjetischen und nationalsozialistischen Lagern?

Kramer: Ja, das ist die spannende Frage, die es zu untersuchen gilt auf unserer Tagung: Woher kamen die Ideen für die Nationalsozialisten, woher kam die Idee der Errichtung der Konzentrationslager gleich nach Machtantritt der Nazis 1933? Es existierten bereits Lager in Sowjetrussland, bereits ab 1918, das Gulag-System wurde in den 20er-Jahren ausgebaut. Es ist eine These, die manche Kollegen vertreten, dass die Nationalsozialisten die Idee der Lager aus der kolonialen Erfahrung her genommen haben.

Scholl: Wir hatten den großen Historikerstreit 1985, der damals sich an der These von Ernst Nolte entzündete, die Vernichtung der Juden hätten sich die Nazis von den Konzentrationslagern der Sowjets abgeschaut. Das war ja damals, 1985, ein riesiger deutscher Streit.

Kramer: Es ist natürlich immer noch kontrovers, zu sagen, die Nationalsozialistischen Lager waren nicht ursprünglich, sondern kamen vielleicht irgendwo anders her. Allerdings ist es nicht möglich, festzumachen, dass die NSDAP ihre Ideen zum Beispiel aus der sowjetischen Erfahrung bezog oder sogar aus der eigenen deutschen Kolonialerfahrung in Deutsch-Südwestafrika Anfang des Jahrhunderts.

Es erscheint mir viel plausibler zu sein, dass die Nazis ihre Ideen aus der eigenen Erfahrung mit Polizei, mit Strafvollzugsanstalten, mit der eigenen Militärtradition her hatten. Das heißt, sehr viele NSDAP-Mitglieder hatten eigene Erfahrung im ersten Weltkrieg selbst als Kriegsgefangene oder – im Falle Hitlers – als Wärter in einem Kriegsgefangenenlager nach dem Ende des Ersten Weltkriegs.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Historiker Alan Kramer. Er hat eine wissenschaftliche Tagung über die Welt der Lager angeregt, die heute in Berlin beginnt. Ein gemeinsames Signum der sowjetischen wie der nationalsozialistischen Konzentrationslager könnte man ja vielleicht auch als Institution bezeichnen. Das heißt, das Lager wird eigentlich ein Instrument des Herrschaftsstaates, also um auch die Bevölkerung einzuschüchtern. Bist du kritisch, kommst du ins Lager. Was bedeutet das eigentlich für das Moment des Lagers, wenn also das Lager zur Diktatur gehört?

Kramer: Das Lager hat natürlich eine ganz entscheidende Bedeutung für die Herrschaft in solchen Systemen, in solchen autoritären Diktaturen, Sowjetrussland, das nazistische Deutschland. Die Existenz der Lager war in beiden Ländern sehr gut bekannt. Es war natürlich niemals ein Geheimnis. Es gab sogar im Mai 1933 große Zeitungsartikel in Deutschland über die Konzentrationslager, wo die Menschen umerzogen werden sollten.

Und man sah tatsächlich auch Bilder von kahlgeschorenen Männern, die zur Arbeit herangeleitet wurden, wir bauen das neue Deutschland und wir erziehen diese Menschen um. Wir machen aus ihnen einen Teil der Volksgemeinschaft. Kommunisten werden zu guten Volksgenossen. Nach diesem Motto war die Außenwirkung gedacht. Jeder, der entlassen wurde – man muss auch sagen, dass in den Jahren 1933 bis 39 die allermeisten Inhaftierten in deutschen Konzentrationslagern überlebten und entlassen wurden – sie mussten bei der Entlassung ein Schreiben unterzeichnen, dass sie gut behandelt worden waren.

Scholl: Sie durften nichts erzählen.

Kramer: Sie sollten nichts erzählen, aber sie sollten doch von den Schrecken der Lager erzählen. Das haben sie natürlich getan. Daher ist ihre Frage vollkommen berechtigt, sie dienten der Einschüchterung der Bevölkerung insgesamt, insbesondere der Arbeiterschaft, die immer noch als potentielle Gegner, Gegnerinnen des Regimes galt.

Scholl: Kein demokratischer Staat darf sich im Grunde ein Lagersystem erlauben, aber wir haben seit 2001 den Fall vom amerikanischen Guantanamo, wo die USA Terrorverdächtige interniert haben, ohne Prozess, seit Jahren, und schon ein permanenter wunder politischer Punkt, im Land auch selbst, international natürlich auch. Präsident Obama hatte vor seiner Wahl zugesichert, das Lager aufzulösen. Es ist immer noch in Betrieb. Ist Guantanamo ein Sonderfall als Lager?

Kramer: Wir müssen noch ein bisschen weiter zurück in die Geschichte gehen, und zwar kann man von den Lagern als einem traurigen Erfolgsmodell sprechen. Die demokratischen Staaten – auch nach dem Zweiten Weltkrieg – wollten und mochten nicht auf Lager verzichten. Und das waren natürlich nicht Konzentrationslager in unserem heutigen Sinne, aber es gab Lager für die Überlebenden des Holocaust in Deutschland, die sogenannten DP-Lager (Einrichtungen zur vorübergehenden Unterbringung so genannter Displaced Persons, Anm. der Red.) Es gab Lager für die Juden, die den Holocaust überlebten, um für sie menschenwürdige Bedingungen zu schaffen, und sie entwickelten dort ein reges Kulturleben, wollten dann natürlich auch irgendwann auswandern, und die meisten von ihnen sind dann spätestens Anfang der 50er-Jahre nach Israel ausgewandert.

Aber in anderen Situationen gab es auch in den demokratischen Ländern Lager, und zwar in den Kriegen gegen koloniale Unabhängigkeitsbewegungen. Die Briten in Malaya, in Kenia, in den 50er-Jahren, die Franzosen in Algerien. Sie errichteten auch Internierungslager für die Zivilbevölkerung, und dort herrschten unmenschliche Bedingungen, kann man nicht anders sagen.

Insofern stellt Guantanamo keinen Sonderfall, sondern vielleicht einen Extremfall dar. Es stellt sicherlich eine Neuigkeit dar in der Behandlung von verdächtigen Menschen, und da sehe ich schon eine gefährliche Entwicklung in Richtung Notstandsrecht. Wenn ein Staat meint, sich in einer Notsituation zu befinden – nach dem 11. September 2001 –, dann besteht leider in den Vereinigten Staaten, aber auch in anderen Staaten, die Tendenz, einen Sonderfall zu schaffen und eben Guantanamo.

Scholl: Bleibt ein Lager, ganz egal ob es auch aus humanitären Gründen eingerichtet wird – ein Flüchtlingslager, ein Auffanglager –, nicht immer doch im Grunde ein zivilisatorischer Schandfleck, Herr Kramer?

Kramer: Das ist nicht zwingend notwendig. Es gibt die Notwendigkeit für Menschen, die in großen Massen aus einem Land, aus einem Kriegsgebiet fliehen …

Scholl: … wir haben jetzt wieder das Problem mit den Flüchtlingen aus Nordafrika. Die werden in Auffanglager gesteckt, in Lampedusa.

Kramer: Ja, da muss man im Einzelnen schauen, wie sind die Bedingungen, was ist der Zweck der Errichtung von Lagern? Geht es nicht doch anders? Muss man den Leuten ihre Freiheit nehmen? Diese Fragen müssen diskutiert werden und werden auch diskutiert in der internationalen Gemeinschaft, wie wir wissen – kontrovers.

Scholl: Die Welt der Lager – ab heute debattieren Wissenschaftler dieses Thema auf einem internationalen Symposion in Berlin. Herr Alan Kramer, der Historiker aus Dublin, ist mit dabei. Herr Kramer, wir wünschen Ihnen eine erkenntnisreiche Tagung, und schönen Dank für Ihren Besuch.

Kramer: Ich danke Ihnen.