Vitamin D

Zweifelhafte Sonnenpille

Nahrungsergänzungsmittel in einem Supermarkt-Regal
Vitamin D trägt unter anderem dazu bei, die Knochen zu stärken. © picture-alliance / dpa/ Jens Kalaene
Von Udo Pollmer · 28.04.2017
Vitamin D soll als Allheilmittel bei Depressionen, Krebs und Multiple Sklerose helfen. Doch Studien zeigen, dass die Wunderwaffe vielleicht doch keine Wunder bringt.
Warum eigentlich schlucken immer mehr Menschen das sogenannte "Sonnenvitamin" – auch Vitamin D genannt? Müssen wir die Sonne neuerdings mit Löffeln essen, weil sie sich klammheimlich des Nächtens vom Acker gemacht hat? Inzwischen hat sich der Trend – so die New York Times - zu einer "Religion" von globalem Ausmaß gemausert. Andere nennen es eine Pandemie – eine Seuche wie der Ausbruch der Pest. In aller Welt, auch in den sonnenverwöhnten Tropen, wird Vitamin D – teilweise hochdosiert - vertilgt. Doch woran glauben diese Menschen? Bestimmt nicht an den Sonnengott des Alten Ägyptens.

Allzweckwaffe gegen Mangelerscheinungen

Wenn es darum geht, die Quelle eigenwilliger Gesundheitstrends aufzuspüren, lohnt ein Blick ins Internet. Eine Flut professionell gestalteter Websites beklagt einen allgemeinen Mangel – mit subtilen bis schlimmen Folgen. Die Anzeichen decken sich mit der üblichen Werbeprosa für Nahrungsergänzungen: Müdigkeit, Muskelschwäche, Depressionen, Krebs, Herzinfarkt, Rheuma, Diabetes, Osteoporose. Ja selbst Schizophrenie oder Multiple Sklerose sowie fast alle weiteren bekannten Krankheiten zählen zum Formenkreis des D-Mangels.
Dabei hat Vitamin D im Körper vor allem eine Funktion: Es reguliert die Aufnahme von Phosphat und Calcium und damit die Festigkeit des Knochens. Eine Überdosis ist dabei so unerwünscht wie ein Mangel. Aber ein Mangel ist bei uns sehr selten. Lichtmangel ist häufiger – aber Tageslicht hat noch viele weitere Wirkungen auf den Stoffwechsel als Vitamin D – deshalb kann man ein Zuwenig an Tageslicht nur in seltenen Fällen durch Pillen kompensieren.
Bis dato galten Werte von 10 bis 20 Nanogramm Vitamin D pro mL Blut als "normal". Doch nun, so behauptet die einschlägige Gesundheitspresse, reichen die 20 Nanogramm "bei Weitem nicht aus, um später das Risiko für Krebs oder Herzkreislauf-Krankheiten zu verringern". Optimal seien 50 bis 75 Nanogramm. So kann auch Urlaubern, die braungebrannt aus dem Süden nach Hause zurückkehren, die Diagnose "Vitaminmangel" drohen.
Fragt man die Verkäufer, wie sie auf ihre exorbitanten Empfehlungen kommen, heißt es vielsagend, heute würden eben viel höhere Werte empfohlen, denn je mehr davon durch den Körper ströme, desto besser. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass es sich nicht um ein Vitamin, sondern in Wirklichkeit um ein Hormon handelt, so wie das Östrogen in der Pille oder das Cortison.

Nutzen zweifelhaft

Nun zeigen sauber geplante Studien – also doppelblind, placebokontrolliert und mit klinisch relevanten Endpunkten - seit Jahren keinen Nettonutzen durch Einnahme von Vitamin D. Die jüngste Untersuchung dieser Art, erschienen im April in einem führenden Kardiologen-Journal ergab bei über 5.000 Teilnehmern keine vorbeugende Wirkung vor Herzinfarkt – auch nicht in Verbindung mit Calcium. Eine weitere Studie vom März 2017 mit über 2.000 älteren Damen erbrachte auch nach vier Jahren keinen Schutz vor Krebs. Doch dem Geschäft wird das keinen Abbruch tun.
Eine lukrative Nebenwirkung einer stark überhöhten Zufuhr ist nämlich Appetitlosigkeit. Damit eröffnen sich schier unbegrenzte Absatzmöglichkeiten. Vitaminmangel als Ursache von Hüftgold? Was für eine entlastende Erklärung für gedemütigte Moppelchen! Einer der vielen vermeintlich rettenden Strohhalme, die im Internet nur darauf warten, kostenpflichtig ergriffen zu werden. Welches Ausmaß dieser Hormonmissbrauch inzwischen erreicht hat, lässt sich an den Google-Treffern ablesen: bei "Vitamin D" und "Abnehmen" sind’s über 400.000. Doch mit physiologischen, also unbedenklichen Dosierungen ist da nichts zu wollen.
Wer die Verzweiflung vieler Menschen kennt, die mit allen verfügbaren Mitteln sich ihrer Fettpölsterchen entledigen wollen, ahnt natürlich, dass bei ausbleibendem Erfolg schnell mal die Dosis erhöht wird. Appetitverlust ist übrigens ein typisches Merkmal vieler Vergiftungen. Vermutlich könnte man mit dem Versprechen eines Schlankheitselixiers sogar Rattengift verkaufen. Übrigens: Hochdosiert wird Vitamin D tatsächlich zur Rattenbekämpfung eingesetzt. Mahlzeit!

Literatur

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Boss H: So wichtig ist Vitamin D (Cholecalciferol). Abenteuer Heilung 05.12.2011, abgerufen am 20. April 2017 http://www.horstboss.de/de/veroeffentlichungen/tipp-der-woche/so-wichtig-ist-vitamin-d-cholecalciferol/022fef64ac10d151becbcfabf8ea6ec5.html
Anon: Vitamin D: Grenzwerte des Vitamins. Focus Online, abgerufen am 20. April 2017
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Pollmer U: Vitamin D: Pillen ersetzen das Sonnenlicht nicht. Deutschlandradio, Mahlzeit vom 08.03.2014 http://www.deutschlandradiokultur.de/vitamin-d-pillen-ersetzen-das-sonnenlicht-nicht.993.de.html?dram:article_id=279484
Pollmer U: Licht ins Dunkel um Vitamin D: Über den Sinn von Nahrungszusätzen in der Winterzeit. Deutschlandradio, Mahlzeit vom 06.01.2013 http://www.deutschlandradiokultur.de/licht-ins-dunkel-um-vitamin-d.993.de.html?dram:article_id=233090
Pollmer U: Vitamin D: Allergisch auf Prophylaxe. Deutschlandradio, Mahlzeit vom 10.02.2007 http://www.deutschlandradiokultur.de/vitamin-d-allergisch-auf-prophylaxe.993.de.html?dram:article_id=154350
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