Vision eines friedlichen Kolumbien

Héctor Abad im Gespräch mit Holger Hettinger · 03.06.2009
Mit "Briefe an einen Schatten" hat der kolumbianische Schriftsteller Héctor Abad seinem Vater, der 1987 erschossen wurde, ein Denkmal gesetzt. Er beschreibt ihn als lebensbejahenden und sozial engagierten Mann und Mediziner. Damit habe er dem negativen Bild von Kolumbien auch etwas Positives entgegensetzen wollen, so Abad.
Holger Hettinger: Leben inmitten von Gewalt und Korruption, im Klammergriff von Drogen, Mafia und von kriminellen Vereinigungen, die sich als Befreiungsbewegungen ausgeben. So drastisch beschreibt der kolumbianische Schriftsteller und Journalist Héctor Abad das Leben in Kolumbien. Eines der Opfer dieses irrsinnigen Kampfes ist Héctor Abad senior, der Vater des Autors. Er war Professor für Sozialmedizin in Medellin, ein berühmter Arzt, der sich für Gerechtigkeit und die Belange der Armen engagierte und dem genau dieses Engagement zum Verhängnis wurde. Denn Menschen mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden sind denen, die vom Drogensumpf und von der Korruption profitieren, ein Dorn im Auge. 1987 wurde Héctor Abad senior erschossen. Sein Sohn hat nun ein Buch geschrieben über Héctor Abad, "Briefe an einen Schatten" heißt es. Nun ist es auf Deutsch im Berenberg-Verlag erschienen. Héctor Abad ist nun im Studio von Deutschlandradio Kultur. Schön, dass Sie hier sind, herzlich willkommen!

Héctor Abad: Gracias por invitar me!

Hettinger: Herr Abad, ich war eigentlich auf eine brutale, blutige Geschichte aus einem weitgehend rechtsfreien Raum gefasst. Und dann war ich überrascht, positiv überrascht, zunächst eine ganz zärtliche, innige Vater-Sohn-Geschichte zu lesen. Sie beschreiben Ihre Kindheit in einem gelehrten, bildungsbürgerlichen Haus. Da kommen zwar einige zwielichtige Gestalten vor, wie der betrügerische Verwalter des Landguts, aber eigentlich habe ich Sie um diese zärtliche Idylle beneidet. Waren die Bedrohungen, denen Ihr Vater schon damals ausgesetzt war, denn nie spürbar für Sie als Kind?

Abad: Wenn man Zeitungen liest oder Romane liest, die von Kolumbien handeln, dann stellt sich einem ein Bild ein, das ein Land beschreibt, das wie die Hölle sein muss. Aber in Kolumbien wie in jedem anderen Land auch gibt es viel Fröhlichkeit, und das Land insgesamt versucht, so normal wie möglich zu sein. Es gibt gute Menschen, die für ein besseres Leben kämpfen. Und da nun einmal dieses negative Bild Kolumbiens in der Öffentlichkeit überwiegt, habe ich mit meinem Buch versucht, dem etwas entgegenzusetzen, ein positives Bild des Landes zu zeigen, ein ganz normales Leben.

Hettinger: Mir hat Ihr Buch sehr gut gefallen, Héctor Abad, weil man zwei Personen ganz, ganz nahe kommt – Ihnen und Ihrem Vater. Ihr Vater, der als sehr warmherziger Mensch geschildert wird, der von allen immer angepumpt wird, aber dem das gar nichts ausmacht, der denen dann Geld gibt freigiebig, der sehr großzügig über Fehler der Einzelnen hinwegsieht, der aber – und das wird auch relativ schnell klar – der ein Anliegen hat, der eine Mission hat und der wild entschlossen ist, diese Mission nach Gerechtigkeit, die Sache der Armen zu vertreten, dass ihm das sehr, sehr wichtig ist. Und der Kampf Ihres Vaters für diese Gerechtigkeit und für medizinische Versorgung, das wirkt sehr heldenhaft angesichts der Übermacht derer, die genau diesen Kampf verhindern wollen. Was glauben Sie, was hat Ihren Vater angetrieben?

Abad: Man spricht ja oft von den öffentlichen Tugenden und den privaten Sünden bei Menschen. Mein Vater war eine sehr öffentliche Person, die im öffentlichen Leben sehr liberal war, ein Linker, der komplett gegen die Gewalt war. Und da hätte man ja nun vermuten können, dass er nun eine Schattenseite hätte in seinem Privatleben. Aber das war überhaupt nicht der Fall. Er war in seinem Privatleben ebenso eine positive Persönlichkeit. Woher er die Kraft nahm, das vermag ich auch nicht zu sagen. Ich habe mein Buch extra wie einen Roman aufgebaut, um es selber Schritt für Schritt nachvollziehen zu können, die großartige Persönlichkeit meines Vaters beschreiben zu können, so wie sie ist. Woher die Kraft kam, ich weiß es nicht.

Hettinger: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass in Kolumbien normalerweise die Eltern verhindern, dass ihre Kinder an Demonstrationen teilnehmen und dass es bei Ihnen zu Hause genau umgekehrt war. Sie und Ihre Geschwister haben versucht, Ihren Vater vom Demonstrieren abzuhalten – warum?

Abad: Das ist nur ein weiterer Beleg dafür, wie seltsam und einzigartig unser Vater war, dass er dorthin gegangen ist. Und wir hatten eigentlich versucht, ihn aus Angst zu stoppen oder ihn davon abzuhalten, auf Demonstrationen zu gehen. Das lag einfach daran, dass die politische Lage immer gefährlicher wurde und um ihn herum etliche Personen ermordet worden sind, die ihm nahestanden. Und so befürchteten wir eben, dass er auch Opfer werden könnte. Und das war ja auch nicht so abwegig. Eigentlich also wollten wir deshalb nicht, dass er auf Demonstrationen geht. Aber er ließ sich absolut nicht einschließen. Auf unsere Warnungen antwortete er immer nur mit einem Lachen, und er ging mit viel Freude zu diesen Demonstrationen.

Hettinger: Welche Rolle spielte die Religion in Ihrer Familie? In Ihrem Buch kommt die Gran Mission beispielsweise alles andere als gut weg.

Abad: In meiner Familie gab es eigentlich zwei klare Fronten. Da war einmal mein Vater, ein erklärter Agnostiker, ein Anhänger der Aufklärung, der Voltaire und Diderot las, und auf der anderen Seite meine Mutter, eine sehr religiöse Person, die wie eine Tochter des Erzbischofs aufgewachsen war von Medellin. Obwohl sie eigentlich seine Nichte war, ist sie doch in seinem Haushalt aufgewachsen. Also sehr katholisch, sehr religiös geprägt. Das sind eigentlich zwei gegensätzliche, widersprüchliche Positionen. Dennoch gab es in meiner Familie keinen Streit. Man ging sehr tolerant miteinander um. So sagte mein Vater zum Beispiel gelegentlich: Geh mal zur Messe, mein Sohn, dann freut sich deine Mutter, aber du weißt ja, das stimmt alles nicht wirklich, was da erzählt wird. Du weißt, das ist alles Unsinn, aber tu Mama den Gefallen! Also diese Toleranz hat wirklich existiert. Meine Mutter war auch in sich sozusagen nicht rein religiös, sie war eine sehr mystische Person, aber im wirklichen Leben war sie mehr Realistin als mein Vater. Sie hatte eine sehr realitätsbezogene Seite. Sie verwaltete die Finanzen, sie kümmerte sich darum, dass alles funktionierte bei uns. Mein Vater war zwar eigentlich im Geiste Rationalist, hatte aber im praktischen Leben den Kopf irgendwo in den Wolken und war entsetzlich unpraktisch, nicht einmal in der Lage, eine Glühbirne einzuschrauben oder sich selbst eine Tasse Kaffee zuzubereiten.

Hettinger: Der Tod Ihres Vaters ist nun 22 Jahre her. Was hat sich seitdem verändert in Medellin?

Abad: Mein Vater hat es als Arzt so gesehen, dass die Gewalt praktisch eine Epidemie ist, die Kolumbien heimgesucht hat. Es war zum Beispiel so, dass in dieser Zeit Mord die Haupttodesursache war. Und er hat versucht, zunächst mit ärztlichen Mitteln dagegen zu kämpfen, aber da die Situation das nicht anders erlaubte, schließlich eben auch mit politischen. Man muss sich vorstellen, dass sein Mord in eine Zeit fällt, als diese Gewalt auf dem Höhepunkt war. Also in diesem Jahr, das war wirklich das Jahr 1987, das Jahr, in dem am meisten Menschen umgebracht wurden in der Stadt, das waren 6000 Morde. Und seitdem kann man sagen, dass es sich über die Zeit sehr gebessert hat. Vor allem die letzten Bürgermeister haben einiges bewegt in der Stadt und waren sehr ernsthafte und verantwortungsbewusste Personen, sodass es letztes Jahr nur noch – also es sind immer noch viele, aber es hat sich wirklich gebessert – nur noch 650 Morde pro Jahr gab. Und Ideale zum Beispiel, für die mein Vater gekämpft hat, wie Bildung, Toleranz und Gesundheit, bei denen bemerkt man nun, dass sie auch umgesetzt werden, dass sie in die Praxis übertragen werden. Und dafür hat unter anderem auch der jetzige Bürgermeister gesorgt, der Sergio Fajardo heißt und den ich für einen sehr guten Mann halte.

Hettinger: 650 Morde im Jahr, eigentlich eine unvorstellbare Zahl, eine unvorstellbare Höhe, dennoch erreichen uns immer wieder, ich sag mal, Nachrichten der Normalität hier in Deutschland aus Medellin. Da gibt es beispielsweise ein Poesie-Festival, bei dem jedes Jahr Zehntausende von Menschen auf die Straßen gehen, einfach um Gedichte zu hören und um zu feiern und um sich dieser Lyrik hinzugeben. Und gleichzeitig hört man auch viel von Priestern, von Anwälten, von Ärzten, die eben diesen Kampf aufnehmen und ihn führen für mehr Gerechtigkeit, für ein menschenwürdigeres Leben, für diese ganzen sozialen Anliegen. Woher schöpfen diese Menschen dort ihren Lebensmut, ihre Hoffnung?

Abad: Kolumbien ist ein sehr lebendiges Land. Wir wollen nicht in den USA leben, wir wollen nicht in Europa leben, wir möchten dort bleiben, wo wir sind, dort sterben, wo wir geboren wurden. Aber das möchten wir eben in einem weniger gewalttätigen Land. Wir möchten in einem würdigeren Land leben, das ist unser Ziel. Ich denke, das ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis überall auf der Welt, dass man in einem friedlichen, nicht gewalttätigen Umfeld lebt. Und diese Kraft treibt uns an. Ich denke, es ist die gleiche Kraft, die nach 1945 die deutschen Frauen angetrieben hat, sich nicht in ihr Kämmerlein zu setzen und still vor sich hin zu weinen, sondern die Steine zu packen und wieder neu aufzubauen. Jeder spürt doch diesen Drang in sich. Wir suchen alle das Glück und wir hassen die Gewalt, zumindest die Mehrheit der Menschen. Wir versuchen aber, dass die Minderheit der Gewalttätigen es nicht schafft, sich durchzusetzen. Vielleicht ist das ein dummer Optimismus, aber wenn wir diesen Optimismus nicht haben, dann können wir uns gleich als gelähmt betrachten.

Hettinger: Ganz herzlichen Dank! Héctor Abad war das hier im "Radiofeuilleton" von Deutschlandradio Kultur. "Brief an einen Schatten – eine Geschichte aus Kolumbien", das ist der Titel seines neuen Buches, das im Berenberg-Verlag erschienen ist. Und darin erzählt er die Geschichte seines Vaters, eines Arztes und Sozialmediziners, der 1987 erschossen wurde. Ich danke Ihnen sehr für diesen Besuch!

Abad: Muchas gracias!