Vicente Alfonso: "Die Tränen von San Lorenzo"

Zwei Brüder lieben eine Frau

Das Cover von "Die Tränen von San Lorenzo" von Vincente Alfonso, im Hintergrund steht ein Mann, der eifersüchtig ist auf ein Paar, das sich umarmt.
Das Cover von „Die Tränen von San Lorenzo“ von Vincente Alfonso, im Hintergrund steht ein Mann, der eifersüchtig ist auf ein Paar, das sich umarmt. © Unionsverlag / Imago / JuniArt
Von Thomas Wörtche · 04.04.2017
Das Buch sei ein "brillantes Beispiel für die inzwischen nahtlose Verzahnung von Gegenwarts- und Kriminalliteratur", meint unser Literaturkritiker Thomas Wörtche. Der mexikanische Autor Vincente Alfonso wird also zu Recht in seinem Land hochgelobt.
"Ein virtuoser Kriminalroman", so bewirbt der Klappentext den Roman "Die Tränen von San Lorenzo" des hochgelobten und preisgekrönten mexikanischen Schriftstellers Vicente Alfonso. Tatsächlich hat das Buch einen kriminalliterarischen Aufhänger: In Torréon, einer Stadt in Mexiko, wird in der Bar zum "Letzten Schluck" ein Mann ermordet, während sich Torreón (immerhin eine Großstadt mit 600.000 Einwohnern) im Fußballfieber befindet und die Dinge außer Rand und Band geraten. Die Polizei hat alle Hände voll zu tun, die Mordermittlungen werden nicht gerade professionell angegangen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Identität des Mörders fast - aber eben nur fast geklärt ist. Es ist einer der Ayala-Zwillinge. Aber welcher? Remo oder Rómulo? Beide sehen sich zum Verwechseln ähnlich.

Sie war die Begierde beider Brüder

Der Mordfall strukturiert zunächst einmal den Text. Eine der Hauptstimmen des Erzählung gehört einem Psychiater, bei dem sich Remo Ayala Jahre später in Therapie begibt und der anfängt, der Geschichte der Zwillinge auf den Grund zu gehen, zumal er inzwischen auch Rómulo kennengelernt hat. Aber hat er das wirklich? Gleichzeitig erfahren wir von einem ehemaligen Sportreporter, der sich daran macht, die Geschichte einer Wunderheilerin, Magierin oder Heiligen namens Niña zu recherchieren, über die jede Menge Legenden und Spekulationen im in Umlauf sind. Diese Frau, so stellt sich heraus, heißt eigentlich Magda und war früher zusammen mit den Ayala-Zwillingen mit einem Zauberer, dem "großen Padilla", auf Tour durch das ländliche Mexiko. Und ausgerechnet dieser Padilla ist das Mordopfer aus dem "Letzten Schluck", während Magda, so scheint es, das Objekt der Begierde beider Zwillinge war. Oder auf beide gleichzeitig begierig?
Diese etwas vertrackte Konstellation scheint deutlich auf eine Geschichte von Jorge Luis Borges zu verweisen - "Eindringling" - und wird von Alfonso auch so zitiert. Aber entscheidend ist dabei nicht die Geschichte – zwei Brüder lieben die dieselbe Frau und bringen sie am Ende um. Alfonso agiert raffinierter: Der Borges-Text beginnt nämlich mit einem kleinen Exerzitium über Erzählinstanzen: Wer kann die Wahrheit der Ereignisse wissen?

Frage nach Wahrheit und Illusion

Exakt darum geht es auch in "Die Tränen von San Lorenzo". Zu der Identitätsproblematik der Zwillinge, und die der ominösen Niña/Magda, gesellt sich die Frage nach Wahrheit, Illusion, Realität und Vorstellungen von Realität. Auf nur 216 Seiten kreist Alfonso vermittels verschiedener Erzählperspektiven und auf verschiedenen Zeitebenen, die bis in die 1970er-Jahre und den damaligen politisch-sozialen Unruhen in Mexiko zurückführen, um diese beiden essentiellen Themen.
Der Schauplatz Mexiko, der die üblichen Klischees nicht bedient, ist dennoch mit seinem Katholizismus, seinem Totenkult – der Originaltitel spricht nicht von Tränen, sondern von Gebeinen – und seiner Grenzlage zu den mächtigen USA, ist keinesfalls zufällig. Man kann die Parameter "Wahrheit" und "Identität" durchaus als parabelhaft für die Verfassung eines Landes, einer eigenständigen Kultur lesen. In dem Fall ist "Die Tränen von San Lorenzo" ein weiteres, brillantes Beispiel für die inzwischen nahtlose Verzahnung von Gegenwarts- und Kriminalliteratur.

Vicente Alfonso: Die Tränen von San Lorenzo
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Unionsverlag, Zürich 2017
216 Seiten, 20 Euro

Mehr zum Thema