Verschwundene Kunstwerke

19.12.2012
Die bildenden Künste zeichnen sich dadurch aus, dass sie sichtbar sind. Céline Delavaux widmet sich in seinem Buch nun dem Paradox unsichtbarer Kunstwerke und versucht, sie uns vor Augen zu führen - gemeinsam mit den Gründen für ihr Verschwinden.
Verschollen, verändert, zerstört, verborgen, gestohlen: In diese fünf Kategorien gliedert die französische Kunsthistorikerin Céline Delavaux ihren Blick auf fast zweieinhalb Jahrtausende Kunstgeschichte. Ihr Kriterium für die Auswahl von insgesamt 40 Werken ist also kein zeitliches, geografisches oder stilistisches, sondern sie konzentriert sich auf Werke, die wir nicht mehr sehen können - eben weil sie verschollen, verändert, zerstört, verborgen oder gestohlen sind.

Die Palette reicht von einer verlorenen chinesischen Bildrolle aus dem 4. Jahrhundert nach Christus über die für Frauen verbotenen Klöster auf dem Berg Athos, zu den notwendig zeitlich befristeten Verpackungen von Gebäuden oder Inseln durch das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude. Dominiert wird Delavaux’ Auswahl jedoch von gewaltsamer Zerstörung durch kriegerische Auseinandersetzung - seien es die umfassenden Verwüstungen im Zweiten Weltkrieg, die Beschädigung von Kunst bei den Terroranschlägen am 11. September 2001, die gezielte Sprengung der Buddha-Statuen in Afghanistan durch die Taliban oder die Zerstörung zahlreicher Bronzestatuen in der Antike, um das Metall für die Kriegsführung zu nutzen. Absichtliche Akte der Zerstörung werden durch unbeabsichtigte ergänzt, beispielsweise den Brand im Londoner Lager einer Kunstspedition oder die Zerstörung - und zugleich Bewahrung - einer ganzen Stadt durch den Ausbruch des Vesuv im Jahr 79 n. Chr.

Jenseits der Umstände des jeweiligen Verschwindens, lassen die konzentrierten Recherchen der Autorin die historische Komplexität der Einzelschicksale von Kunstwerken deutlich werden. Doch nutzt sie diese Lebens- wie Leidensgeschichten nicht für thematische Querverbindungen oder theoretische Überlegungen. So wird die eigentlich interessanteste Grenze nur an der Oberfläche thematisiert, nämlich jene zwischen einem außerkünstlerisch und einem künstlerisch motivierten Verschwinden.

Delavaux führt vereinzelt Beispiele an, bei denen der Künstler auch der Zerstörer ist – und die Zerstörung eine gewollte. Ergänzen ließe sich dieses Feld durch Werke wie etwa Marcel Duchamps "Großes Glas", dessen unbeabsichtigtes Zerbrechen das Werk erst vollendete. Auch ein Akt wie Robert Rauschenbergs Ausradierung einer Zeichnung Willem de Koonings als Form künstlerischer Aneignung ist eine weitere Facette in jenem Spektrum, das die Frage nach dem Verschwinden von Kunst zu einer auch künstlerisch relevanten macht.

Delavaux’ Buch ist ein Bildband. Das ist so irritierend wie aufschlussreich. Es enthält Fotografien von ehemals Präsentem, Abbildungen von Kopien, Vorstudien oder verwandten Werken. Es bedient sich also einer Form, die unsere Rezeption von bildender Kunst stärker bestimmt als die unvermittelte Anschauung.

Damit stellt das Buch implizit die Frage: Wie wichtig, wie überprüfbar ist die Existenz von Originalen? Das Verschwinden der Werke, ihr spürbar gemachter Verlust durch eine visuelle Enttäuschung des Betrachters, setzt das Buch nicht um. Vielmehr schließt es durch eine Fülle von Abbildungen die Lücke, die es erforscht.

Besprochen von Dorothée Brill

Céline Delavaux: Kunst, die Sie nie sehen werden. Gestohlen, verschollen, zerstört
Prestel Verlag, München, 2012
192 Seiten, 24,95 Euro