Verfassung von des Kaisers Gnaden

Von Karl F. Gründler · 16.04.2006
Eine Föderalismusdebatte hatten wir bereits: vor 135 Jahren bei der Gründung des Deutschen Reiches. Die Länder bekamen weit mehr Einfluss auf die Regierung als der vom Volk gewählte Reichstag. Am 16. April 1871 trat die Verfassung des Deutschen Reiches in Kraft.
Kaiser Wilhelm I. beendete im April 1871 mit seiner Unterschrift unter die Reichverfassung einen langjährigen Verfassungskonflikt. Seit Anfang der 60 Jahre stritt er noch als König von Preußen mit dem Landtag um die Rechte von Krone und Parlament. Heidemarie Anderlik, Historikerin am Deutschen Historischen Museum in Berlin:

"Das ging schlicht darum, dass der König auf alle Fälle wollte, dass niemand ihm in seine Militärangelegenheiten hineinredet und schon gar nicht bestimmt, wie viel Geld er bekommt, welche Truppen er aufstellen kann. Und es ging dann in erster Linie auch darum, dass er die dreijährige Dienstzeit einführen wollte."

Die bürgerlich-liberale Mehrheit im Landtag suchte vergeblich, mit dem Budgetrecht den Wehretat zu kontrollieren. Wilhelm I. ließ im Gegenzug das Parlament gleich dreimal binnen zwei Jahren auflösen. Außerdem ernannte er den als konservativen Heißsporn bekannten Otto von Bismarck zum Ministerpräsidenten. Bismarck scheute sich nicht, vier Jahre lang am Parlament vorbei ohne genehmigten Haushalt zu regieren. Eine Verfassung mit demokratischer Gewaltenteilung lehnte er ab:

"Das preußische Königtum hat seine Mission noch nicht erfüllt, es ist noch nicht reif dazu, einen ornamentalen Schmuck Ihres Verfassungsgebäudes zu bilden, noch nicht reif, als ein toter Maschinenteil dem Mechanismus des parlamentarischen Regiments eingefügt zu werden."

Um die innenpolitische Blockade aufzuheben, ging Bismarck außenpolitisch in die Offensive und suchte mit militärischen Mitteln den Einfluss Preußens auf ganz Deutschland auszuweiten. Zunächst im Krieg mit Österreich gegen Dänemark 1864, dann zwei Jahre später mit den norddeutschen Kleinstaaten gegen Österreich. 1866 gründete Bismarck den von Preußen dominierten Norddeutschen Bund, dessen Verfassung die Reichsverfassung von 1871 in allen wichtigen Punkten vorwegnahm. Das neue Wahlrecht war nicht mehr nach Vermögen gestaffelt, sondern räumte jedem Bürger eine Stimme ein:

"Artikel 20. Der Reichstag geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor."

Demokratische Neigungen waren Bismarck dabei völlig fremd. Er hoffte vielmehr, mit den Stimmen der konservativen Landbevölkerung den Einfluss des Bürgertums zurückzudrängen. Das Parlament konnte keine Gesetze beschließen, sondern diese dem Bundesrat, der von Preußen dominierten Länderkammer, zur Beratung vorschlagen. Das Regiment von Bundeskanzler Bismarck und preußischem König war einer wirksamen parlamentarischen Kontrolle entzogen. Der König war laut Verfassung berechtigt,

"den Bund völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Bundes Krieg zu erklären und Frieden zu schließen und Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen ... den Bundesrat und den Reichstag zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen."

Grundrechte wie Briefgeheimnis, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sah die Verfassung des Norddeutschen Bundes ebenso wenig vor wir ein unabhängiges Bundesgericht. Der Militäretat wurde pauschal und für vier Jahre im Voraus verabschiedet. Diese Zeit wusste Bismarck zu nutzen. Im Juli 1870 provozierte er den deutsch-französischen Krieg, um dann mit der gesamtdeutschen Siegeseuphorie im Rücken das Deutsche Reich zu gründen. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes wurde nun zur Reichsverfassung umgewidmet. Die süddeutschen Staaten erhielten dabei, um ihnen den Beitritt zu erleichtern, Sonderrechte: bei der Bier- und Branntweinsteuer, bei der Militärhoheit in Friedenszeiten und in der Außenvertretung. Heidemarie Anderlik:

Heidemarie Anderlik: "Das ist ja ein wichtiger Punkt, wo sehr lange drüber verhandelt wurde, weil es natürlich für einen König von Bayern doch ein Zugeständnis war oder für den König von Württemberg, wenn er keine direkte Außenvertretung mehr hat, nach Frankreich zum Beispiel. Das heißt, er wird eine Nummer zurückgesetzt."

Am 16. April 1871 trat die Verfassung des Deutschen Reiches in Kraft. Im neuen Wirtschaftsraum Deutschland war das Bürgertum nun vor allem damit beschäftigt, einen beispiellosen Wirtschaftsboom, die Gründerzeit, in Gang zu setzen. Die Frage der demokratischen Grundrechte und der parlamentarischen Kontrolle der Regierung wurde bis zur Weimarer Verfassung 1919 vertagt.