Verblüffend leicht

31.07.2009
"Das Maß der Schönheit" von Primo Levi beinhaltet 14 Ende der Sechzigerjahre geschriebene Erzählungen. Manche davon drehen sich um merkwürdige Leute - beispielsweise um einen alten Landarzt, der sein Lebensgeheimnis lüftet.
Wo von der Shoah die Rede ist, fällt der Name Primo Levi - und umgekehrt. Der Turiner Jude, studierter Chemiker und Schriftsteller, hat Auschwitz überlebt, weil er erst im IG-Farben-Werk von Monowitz gebraucht wurde und dann, als die Rote Armee näher rückte, Scharlach bekam. Die SS ließ ihn zum Sterben da und zwang die anderen auf die Todesmärsche.

Elf Monate Vernichtungslager waren der abgrundtiefe Riss in seinem Leben, er hat ihn danach wie wenige andere - Jean Améry, Jorge Semprun, Tadeusz Borowski, Imre Kertesz etwa - zu füllen versucht mit dem Erinnern durch Erzählen. 1947 erschien sein erstes und lange Zeit letztes Buch, "Ist das ein Mensch?" Der winzige Verlag verkaufte 1500 Exemplare.

Erst Anfang der Sechzigerjahre und dank der Übersetzung ins Englische und Deutsche wurde es zu dem Stück Holocaustliteratur, als das es weltweit berühmt ist. Allein das, was Levi direkt zum Thema geschrieben hat, ist fast übermenschlich, zumal er bis 1977 als Chemiker vollbeschäftigt war. Aber er war außerdem Schriftsteller: ein unkonventioneller, eleganter Stilist mit einer sehr eigenen, visionären Ironie und von einer Humanität, in der sich - wie in seinem Gesicht - Melancholie und Optimismus ständig überlagern und wieder lösen.

In Deutschland verschwindet dieser Primo Levi zumeist hinter dem Erinnerungsarbeiter. Deshalb ist es eine feine Idee, ihn mit einem Band literarischer Kleinode zu feiern, pünktlich zu seinem heutigen 90. Geburtstag als Taschenbuch auf den Markt gebracht.

"DAS MAß DER SCHÖNHEIT" enthält 14 Ende der Sechzigerjahre geschriebene Erzählungen. In manchen geht es um merkwürdige Leute - einen alten Landarzt zum Beispiel, der sein Lebensgeheimnis buchstäblich lüftet: 50 Fläschchen mit synthetisierten Gerüchen, die an Orte, Ereignisse, Menschen erinnern; oder einen Mr. Simpson, der verrückte Dinge testet: einen "Kalometer", mit dem sich Schönheit messen lässt, oder ein System, das Bienen, Libellen, Ameisen arbeiten lässt. Futuristisch war das, heute haben wir Biometrie und Nanotechnik.

Manche Geschichten sind sarkastische Parodien auf Wissenschaftsprosa - man stellt fest, dass die Arbeit als Zensor Menschen krank macht, Maschinen als Ersatz nicht taugen, das gewöhnliche Haushuhn aber brillant dafür geeignet ist , der Bericht ist unterzeichnet mit einem Kratzfuß; oder eine Infektion befällt Autos, es folgen Erkenntnisse über "he-cars" und "she-cars" und homo- und heterosexuelles Kaufverhalten.

Andere Geschichten sind unterkühlt gespenstisch: Da wird das ganze Leben einschließlich Sex von roten Kontrolllämpchen beherrscht oder alle Menschen tragen Rüstung, weil der Autoabsatz stagniert, die Produktionsanlagen aber ausgelastet werden müssen; da wird die menschliche Stirn als Werbefläche vermarktet oder ein Amt für "Spezifikationen" empfiehlt "möglichst zerstörungsfreie" Tests für "Hitze- und Kältebeständigkeit, Biege- und Drehversuche" bei "No. 366478 = der Mensch". Und wir denken an Dr. Mengele.

Stilistisch sind die Geschichten alle verschieden, aber sie haben alle etwas verblüffend Leichtes. Obwohl sie um ein schweres Thema kreisen: die Individualität und ihre Bedrohung durch eine Moderne, der die NS-Mordmaschine jede Unschuld unmöglich gemacht hat - die "schöne neue Welt" der Normierung, Standardisierung und Homogenisierung.

Besprochen von Pieke Biermann

Primo Levi: Das Maß der Schönheit,
Erzählungen
Aus dem Italienischen von Heinz Riedt und Joachim Meinert
Deutscher Taschenbuch Verlag
München 2009
160 Seiten, 8,90 Euro