Vater Rhein brachte den Tod

Von Kay Müllges · 01.11.2006
Im November 1986 trieben hunderttausende toter Fische den Rhein hinab. Bei einem Brand in einem Werk des Basler Chemiekonzerns Sandoz waren große Mengen hochgiftiger Chemikalien in den Fluss gelangt. Die Verantwortlichen hatten den Profit über die Sicherheit gestellt.
Basel, Schweiz, 1. November 1986. Kurz nach Mitternacht entdecken eine Patrouille der Kantonspolizei und ein Betriebsarbeiter fast gleichzeitig, dass aus dem Lagergebäude 956 im Werk Schweizerhalle des Chemiemultis Sandoz eine Stichflamme schlägt. Die Feuerwehr wird alarmiert und beginnt den Brand zu löschen - und löst damit eine der größten Umweltkatastrophen in der Geschichte des Rheins aus. Denn große Mengen hochgiftiger Chemikalien geraten mit dem Löschwasser in den Fluss.

"Lieber Fisch. Es wird dir gut tun, dass die chemische Industrie die organische Belastung der Gewässer in den letzten 20 Jahren um mehr als 90 Prozent gesenkt hat. Natur ist Chemie. Chemie ist Leben. Leben ist Verantwortung."

Diese großformatige Anzeige des Verbandes der Chemischen Industrie in Deutschland erscheint auch am Tag der Katastrophe in deutschen Tageszeitungen. Derweil breitet sich das Gift im Rhein aus und führt zu einem massiven Fischsterben.

"Ich kann nur sagen, das war eine Katastrophe. Auf jeden Fall war das die größte Tierquälerei, die wo ich erlebt habe in meinen 65 Jahren."

150.000 Aale, praktisch der gesamte Bestand im Rhein, zehntausende Zander, Äschen und Hechte treiben in den folgenden elf Tagen kieloben in Richtung Nordsee. Sie mussten sterben, weil die Verantwortlichen der Sandoz Profit über Sicherheit stellten.

"Eiskalt kalkuliert?","

fragte die "Basler Zeitung", nachdem bekannt geworden war, dass die Züricher Versicherung schon 1981 darauf hingewiesen hatte, dass das fehlende Löschwasserbecken bei der Halle 956 ein Sicherheitsrisiko darstellte. In dem Bericht heißt es:

""Mögliche Auswirkungen bzw. Haftpflichtschäden: Freisetzung von Giftstoffen und Zersetzungsprodukten in Luft- und Löschwasser - Gewässerverschmutzung, Gefährdung der Bevölkerung, Evakuierung (...) Während eines Brandes in einem der oben beschriebenen Lager können also brennbare, hochexplosive und giftige Stoffe aus Kunststoff-Fässern und geplatzten Metallfässern zusammen mit erheblichen Mengen Löschwasser in den Rhein gelangen."

Ob die Verantwortlichen bei Sandoz den Bericht je gelesen haben, lässt sich im Nachhinein nicht mehr feststellen, jedenfalls geschieht nichts - außer dass der Konzern die Versicherung wechselt. Nach der Katastrophe gerät natürlich nicht nur diese eine Firma, sondern die chemische Industrie insgesamt, auch in Deutschland, in den Fokus der Öffentlichkeit. Georg Leber vom Industrieverband Pflanzenschutz in Frankfurt am Main erklärt wenige Tage nach dem Baseler Störfall:

"Wir können nur eins sagen, grundsätzlich, das bei den großen chemischen Unternehmen, die Pflanzenschutzmittel und andere Chemikalien herstellen, nach unseren Recherchen ein Unglück diesen Ausmaßes, was die Folgen angeht, sicher nicht möglich gewesen wäre."

Beschwichtigungen, denen viele nicht mehr glauben mögen. Am 14. Dezember 1986 demonstrieren 40.000 Menschen auf den Rheinbrücken zwischen Basel und Rotterdam. "Stoppt die Brunnenvergifter, der Rhein muss wieder sauber werden. Gesundheit statt Profit", so lautete ihr Motto. So gesehen hatte die Katastrophe zumindest ein Gutes: Sie sensibilisierte die Menschen für die Ökologie, und sie brachte Politik und Industrie dazu, größere Anstrengungen im Gewässerschutz zu unternehmen. Heute ist die Wasserqualität im Rhein besser als vor 20 Jahren, eine Tatsache, die allerdings nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass der Strom auch weiterhin hochgradig industriell genutzt wird, in der Schweiz ebenso wie in Frankreich, in Deutschland, in den Niederlanden. Und viele Menschen sind, trotz aller Fortschritte, sicher noch ebenso skeptisch wie jener Fischer 1986:

"Ich sehe das auch so. Mit dem laufende Wirtschaftswachstum, ob das 1 Prozent ist, oder 0,5 Prozent oder 3 Prozent, wird sich die Umwelt nicht verbessern für uns. Und ich gehe davon aus, das wir uns irgendwann mal selbst vergiften. Irgendwie wird das im Jahr 21.000, also nach 2000 der Fall sein. Also für die Jugend, für die Zukunft, ich kann sie nur bedauern. Aber nur weil wir Menschen nicht genug kriegen können, immer noch mehr, immer noch mehr. Uns geht es doch gut, aber scheint es, das reicht nicht aus."