Vagheiten und Ungesagtes

Rezensiert von Wolfgang Schneider · 05.09.2006
In "Am Rand der Welt" erzählt der Amerikaner Raymond Kennedy die Geschichte eines alten Mannes, der zurückgezogen und allein lebt. Eines Tages nimmt er einen zusammengeschlagenen Fremden bei sich auf. Die Novelle scheint anfangs sehr realistisch, rutscht dann aber ins Sonderbare ab. Kennedy zeigt mit dieser ominösen Geschichte wieder sein Interesse an den dunklen Seiten der Existenz.
Jack, ein Witwer von 72 Jahren, sitzt in seiner eingeschneiten Hütte irgendwo am Rand der Welt. Er hat keine Uhr und kein Telefon, sein Hund hat keinen Namen. Die Zeitschrift, die er am warmen Ofen liest, ist älteren Datums, Jack liest sie nicht zum ersten Mal.

Fast gemütlich, könnte man meinen. In der Nacht aber schreckt Jack auf. War da nicht ein Geräusch? Er bewaffnet sich mit einem Hammer und geht hinaus. Verängstigt wie ein Kaninchen folgt ihm der Hund. Und was nun passiert, entspricht der Definition der Novelle als einer Geschichte, die eine unerhörte Begebenheit erzählt. Ein nackter Mann, blutig zusammengeschlagen, liegt bewusstlos im Schnee, nur ein Schuh ist ihm geblieben. Von den Tätern keine Spur.

Jack schleift den Mann in die Hütte, päppelt ihn wieder auf. Anstatt seinem Lebensretter nun zutiefst dankbar zu sein, fängt der fremde Glatzkopf namens Dick jedoch bald an herumzunörgeln. Was für ein Dreckloch! So in etwa seine erste Bemerkung über Jacks Heim, als er wieder zu sich gekommen ist. Bald beginnt er zu kommandieren.

Schwer zu sagen, welche Stellung ein nackter Mann auf der sozialen Stufenleiter einnimmt. Dicks Tonlage indessen weist darauf hin, dass er draußen in der Welt gewohnt ist, Befehle zu geben. Von tausend, die unter ihm waren, faselt er und entwickelt eine Art minimalistischer Lebensphilosophie, nach der man entweder Boss oder Lump zu sein hat. Wobei ein Boss nur ein "umgedrehter Lump" ist. Zwischen den Extremen haust die "Klasse der Ratten".

Es passiert nicht viel. Die beiden Männer frühstücken, dann bereiten sie sich auf einen Marsch in den Schnee vor. Immer wieder demütigt Dick den alten Jack. Am Ende zieht er noch den Mantel aus, den Jack ihm gegeben hat: "Von Kanalratten nehme ich keine Almosen an." "Du hast zwei Gesichter", wirft er Jack vor. Noch mehr lässt sich das allerdings über ihn selbst sagen, der fortwährend zwischen herablassender Freundlichkeit und aggressiver Schroffheit wechselt.

Schließlich gelangen die Männer in der menschenleeren Landschaft zur Ruine eines Sägewerks. Die Todessymbolik ist mit Händen zu greifen. Am Ende lässt Dick Jack im Schneegestöber zurück – einen sterbenden alten Mann.

Wie Kafkas "Urteil" ist "Am Rand der Welt" eine Geschichte, die beim Leser mit ihrer unaufwendigen Machart zunächst realistische Leseerwartungen weckt, dann aber überraschend den Weg ins Absonderliche einschlägt. Mit gewöhnlicher Psychologie kann die Begegnung der beiden Männer nicht verstanden werden. Der Dialog, den sie bestreiten, bekommt absurde und possenhafte Züge. "Jetzt stehe ich vor dir, ein wahr gewordener Traum", sagt Dick einmal, und auch diese Frage stellt sich der Leser: Ist alles nur ein Traum, kommt man der Geschichte mit Traumlogik auf die Sprünge?

Auch die Endspielfiguren Samuel Becketts bieten sich als Vergleichsgröße an. Wie bei Beckett ist jeder Kontext weggeschnitten, wir erfahren nichts vom Vorleben der beiden Männer. Was war der Grund für Jacks Weltflucht? Von wem wurde Dick verprügelt? Wir können nur spekulieren. Solche Vagheiten und Ungesagtheiten verleihen dem Text eine ominöse, metaphysisch aufgeladene Aura. Er fordert dazu auf, nach tieferer Bedeutung zu bohren. Wofür stehen die beiden Männer, der Tatmensch und der ängstliche Vermeider?

Dick scheint die Zumutungen des Lebens unter Menschen zu verkörpern, vor denen Jack sich in die Einöde zurückgezogen hat. Repräsentieren die beiden das Verhältnis von Herr und Knecht? Oder ist Dick Jacks Todesengel? Schließlich wird immer wieder gesagt, dass es ihn vor seinem aufdringlichen Gast schaudere.

Kennedy ist ein Autor, den die dunklen Seiten der Existenz interessieren. Seine Romane wie "Lulu incognito" und "Hoch zu Ross" nehmen alptraumhafte Wendungen und tauchen die menschlichen Verhältnisse ins Licht einer grotesken Komik. Gewalt und Gemeinheit sind Leitmotive, wie die Figur des präpotenten Dick in "Am Rand der Welt" aufs Neue beweist.

Raymond Kennedy wurde 1934 geboren und lebt in New York. Er unterrichtete "Creative Writing" an der Columbia University. Er hat knapp zehn Romane veröffentlicht, gilt in der amerikanischen Literaturlandschaft aber immer noch als Geheimtipp. Ein Schriftsteller für Kenner, der seinen Rang durch preisende Äußerungen von Raymond Carver oder Tom Wolfe bestätigt sehen kann, dessen Bücher aber größtenteils vergriffen sind.

In seiner literarischen Karriere hat ihn offenbar eine gewisse Glücklosigkeit begleitet. Immerhin: Sein deutscher Verleger glaubt an ihn. Er bringt "Am Rand der Welt" als liebevoll illustrierte Ausgabe, während in den Vereinigten Staaten die zuerst im "New Yorker" erschienene Novelle bisher noch nicht zur Buchveröffentlichung gelangt ist.

Raymond Kennedy: Am Rand der Welt.
Aus dem Amerikanischen von Hans-Ulrich Möhring. Mit Illustrationen von Isabel Klett.
Klett Cotta, Stuttgart 2006
92 Seiten, 12 Euro