Ukraine-Konflikt

"Die Welt ist verrückt geworden"

Slavik in der Ukraine
Slavik hat den Konflikt in der Ukraine hautnah miterlebt. © privat
Von Joachim Baumann |
Im Winter protestierten Hunderttausende bei Minus 20 Grad auf dem Maidan in Kiew. Später eskalierte der Konflikt mit der prorussischen Bevölkerung. Diesen Sonntag nun steht die Präsidentschaftswahl an. Deutschlandradio-Redakteur Joachim Baumann beschreibt die Umwälzungen anhand der Briefe seines Studienfreundes Slavik Fomenko aus Odessa.
Januar, das deutsche Fernsehen ist voll mit Berichten über die Maidan-Proteste in der Ukraine. Vielleicht ist mein Freund Slavik auch zu sehen. Er hat neulich geschrieben, dass er in die Hauptstadt fährt, um Sohn und Enkelkind zu besuchen. Brief vom 24.1.:
"Grüß dich, teurer Freund, ich war einige Tage in Kiew. Wäre ich länger dort geblieben, ich wäre mit auf die Barrikaden gestiegen. Mir ist alles so egal geworden, auch was mit meiner Firma morgen wird. Ich möchte, dass es endlich "morgen" ist."
Die Wasserrohre gefrieren
Slavik hat in den 90ern eine Näherei für Berufsbekleidung aufgebaut – in der Nähe von Odessa. Die Firma heißt "Maidan" zu deutsch: Platz. In Kiew ist der Begriff die Kurzform von "Platz der Unabhängigkeit" - hier war das Zentrum der pro-westlichen Demonstrationen. Weil Slaviks Firma genauso heißt, rümpfen einige Geschäftspartner die Nase. Zusätzlich droht ihm gerade die Insolvenz – von einst 150 Mitarbeitern ist nur noch ein gutes Dutzend übriggeblieben. Das hat Slavik lange beschäftigt, aber nun kein Wort mehr darüber. Brief vom 28.1.:
"Grüß dich mein alter Freund, bei uns ist es jetzt kalt, die Wasserrohre gefrieren, die Straßen sind glatt, keiner räumt, die Leute stürzen hin, Autos fahren ineinander. Aber diese Naturkatastrophen sind nur zweitrangig. Würde heute ein Meteorit auf unsere Köpfe fallen, keiner würde darauf achten. Da ist er runtergefallen, na und? Soll er doch. Vor zwei Tagen habe ich an unserem Nikolajewer Maidan teilgenommen. Inmitten der Demonstranten war es wohlig warm.
Wir bewegten uns friedlich vorwärts Richtung Hauptstraße, schrien unsere Losungen und in den Straßen hallten sie wieder, so als ob wir nicht Zweitausend sondern Hunderttausend wären. Und die Augen! Die Augen der Menschen! Ich hab sie mir genau angeschaut: offene klare, zielgerichtete und glückliche Augen! Und ich mitten unter ihnen, in diesem Moment erfuhr ich einen emotionalen Orgasmus. Ich war glücklich. Glücklich, in der ersten Reihe zu sein – des neuen Lebenszyklus meines kleinen Landes. Ich war glücklich, den alten Mann neben mir zu haben, der kaum den Knüppel in seiner Hand halten kann. Aber er hält ihn fest!"
"Der Vodka wirkt nicht"
Nach den Glücksmomenten der Schock am 20. Februar: Die ersten toten Demonstranten in Kiew – von Scharfschützen ermordet.
"Tränen fließen, der Vodka wirkt nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, das Leid ist unermesslich. Ich hasse die Lumpen, die einfach mit ihren Sniper-Gewehren in die Menge schießen wie in einem Computerspiel. Ich hasse die Leute, die bei mir nebenan wohnen und nichts begreifen, sondern noch die angeblichen Machthaber unterstützen. Ich hasse die russischen Führer, diese Kreaturen!
Ich hasse die europäischen Führer, die 23 Jahre lang nur die Nase über uns gerümpft haben. Kann denn seitens der sogenannten demokratischen Staaten nichts dagegen unternommen werden? Eure Kanzlerin – das eiserne Weib – warum macht die denn nichts? Schwach! Mein Sohn Dima in Kiew ist total schockiert. Er und seine Familie sind in Gefahr. Ich leide, es ist alles sehr ungerecht!"
Es soll Neuwahlen geben. Noch am selben Abend schreibt mir Slavik.
Kann es sein, dass wir wirklich gewonnen haben?
Blick in ein luxuriöses Schiff des gestürzten Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch.
Es wird klar, wie die Obersten gelebt, zum Beispiel beim Blick in ein luxuriöses Schiff des gestürzten Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch.© picture alliance / dpa / Vesa Moilanen
Die Infos widersprechen sich, Wahlen am 25.Mai, wirklich? Janukowitsch wird nicht von allein gehen, oder?
Ich sehe fern und mir dreht sich der Kopf. Was wird nun? In Nikolajev hat man das Lenindenkmal umgestürzt.
Was in der Stadt meines Freundes Slavik passiert, geschieht fast überall in der Ukraine. Lenin-Statuen werden umgestürzt: In Kiew wird eine Übergangsregierung gebildet, Präsident Janukowitsch flieht über Nacht ins russische Exil. "Aufbruchstimmung" heißt es in den deutschen Medien.
Slavik schreibt am 25. Februar anderes:
"Teurer Freund, die Tresore im Land, in denen unsere Gelder liegen sollten, sind leer. Die Menschen sehen nun, wie unsere Obersten gelebt haben, wieviel Geld sie einfach gestohlen haben. Und es gibt marodierende Banden, die unter der Flagge des Maidan stehlen, Feuer legen und den Menschen Angst einflößen. Es beginnt eine schwere Zeit. Ich denke, dass bis zur Stabilisierung der Gesellschaft ein Jahr vergehen wird, oder mehr.
Das alles kann man aushalten, wir warten ja schon so lange. Aber schau, wie sich Russland verhält. Und das ist erst der Anfang! Man muss ihnen heute schon Einhalt gebieten, morgen wird es zu spät sein. Die Flammen können so hochschlagen, dass allen heiß wird. Ein Bürgerkrieg könnte kommen. Entschuldige, aber ich befürchte, dass die Hoffnung auf unsere gemeinsame Angeltour erloschen ist. Ich umarme dich, dein Fuchs!"
Nostalgische Gedanken an das Studium in Odessa
Fuchs ist sein Spitzname, den ich ihm während des Physikstudiums verpasst habe. In Odessa waren wir auf einem Zimmer – drei Jahre lang. Daran muss ich denken, als er mir am 6. März mailt:
"Mein alter Freund...in unserer Studentenzeit saßen wir oft am Tisch bei nem Gläschen. Mit in der Runde: Studenten aus den verschiedensten Ländern. Da waren Ungarinnen, Tschechen, Deutsche und wir Einheimischen. Wir waren neidisch auf die Erzählungen über andere Länder, über die Möglichkeiten, sich in Europa zu bewegen, sogar in den Zeiten des Sozialismus.
Und wir? Nix da! Wir Sovjets' waren stolz auf unser multinationales Land, darauf, dass wir gefährliche Raketen bauen konnten, stolz auf Eishockey, Ballett... und wir haben überhaupt nicht kapiert, dass es eine andere Welt gibt, in der die Menschen in Freiheit leben. Wir Sovjets hatten damals einen netten Spruch auf den Lippen. Der hieß: 'wir werden euch bestimmt mal besuchen ... Pause ... in Panzern.' Da haben alle gelacht."
Ausschreitungen in Odessa
Zig Menschen sind bei Ausschreitungen im ukrainischen Odessa ums Leben gekommen.© dpa / Sergey Gumenyuk
Slavik schreibt jetzt oft, dass er das Gefühl hat, im falschen Land zu leben und er hätte damals nach dem Studium mit mir in die DDR gehen sollen. Es folgt ein Smiley. Doch seine innere Zerrissenheit wird immer stärker, als Anfang März die Unruhen auf der Krim ausbrechen. Der Brief am 11. März.:
"Wenn wir mit Freunden zusammen sitzen, kommt es schnell zu Meinungsverschiedenheiten. Ich verstehe die prorussischen Gedanken einiger nicht und denen ist meine Position unverständlich. Es folgt ein obligatorischer Streit unter Saufkumpanen. Die Welt ist verrückt geworden, allen voran Wowa Putin. Alle müssen sich beruhigen, tief durchatmen, sich an einen Tisch setzen und behutsam die Probleme lösen. Aber derzeit ist alles genau anders herum."
Am 18. März:
"Ist es möglich, dass die Welt zusammenbricht und sich in Ruinen verwandelt. Schon lange standen wir nicht an einem derartigen Abgrund. Ich habe keine Kraft für böse Gedanken, aber bei mir wächst permanent der Hass. Unsere Sommergespräche, Achim, über den langen Frieden in Europa sind Vergangenheit. Wie ist die Zivilisation doch zerbrechlich! Und jeder Brief an dich kann in jedem beliebigen Moment der letzte sein. Pass auf dich auf und auf deine Familie. Ich werde das auch tun. Möge die Vernunft siegen."
Träume von einer besseren Welt
Das Krim-Referendum hat eine Endzeitstimmung bei meinem Freund erzeugt. Ist die Südukraine als nächstes dran?, frage ich mich. Dann diese E-Mail am 14. April:
"Grüß Dich Achim, ich wache auf und auf allen Kanälen ist alles gut, alle haben sich versöhnt, die schlechten sitzen im Gefängnis, die Guten erwarten eine ehrliche Wahl. Es ist Frühling. Die Mädels tragen kurze Röcke. Ich komme zur Arbeit, dort sitzen nervös meine Kunden und die Preise unserer Firma erfreut sie. Die Qualität der Produkte, das war immer unsere Trumpfkarte, die ist nach wie vor vorhanden. Unsere Kinder rufen aus Kiew an, ihr stimmen klingen glücklich, bei ihnen ist alles gut. Die Grenzen zwischen unseren Ländern sind nur noch formal: Man setzt sich einfach ins Auto und fährt für ein langes Wochenende nach Deutschland. Es ist Frieden. Leider erzähl ich nur von einem Traum, von dem ich mir aber so sehr wünsche, dass es so sei, wenn ich erwache."
Aus dem Traum erwachte mein Freund Slavik sehr schnell. Die Kämpfe kamen in eine Stadt, von der es niemand erwartet hätte, in die Stadt unseres Kennenlernens! Der Brief am 4. Mai:
"Odessa – unser Odessa! Ich hätte das nie geglaubt, dass es gerade dort so eskaliert. Doch es musste wohl geschehen: Boshaftigkeit, Unverschämtheit und fataler Fehler. Schande! Die Aufrufe zum Krieg werden lauter. Aber eigentlich ist er schon da. Ich habe lange in der Sowjetunion gelebt, danach 23 Jahre in einem fast unabhängigen Land, der Ukraine. Doch jetzt ergreift mich der Katzenjammer. Ich hab mich in fast allem getäuscht, was ist gut, was ist schlecht?
Ich sehe heute in den Spiegel und erblicke einen erschrockenen Mann, der auf einmal versteht, dass sein gestriges Leben eine Lüge ist. Ich habe meinen Sohn nach den Prinzipien dieser Lüge erzogen! Warum erschrocken? Weil ich nicht weiß, wie ich weiter leben soll. Der Widerstand der Bürger ist auf dem Höhepunkt. Und für wen oder wofür das alles? Damit wieder irgendwer seine Taschen füllt und wir wie die Hunde dafür schuften? Mein Jammer vom gelebten Leben ist groß, größer aber ist die Angst über die Zukunft. Lieber einen schlechten Frieden als einen guten Krieg! Ich umarme Dich, Fuchs!"
Mehr zum Thema