Überwachte Kindheit

Von Astrid von Friesen · 25.01.2008
Mother-Watching oder Helicopter-parenting - so lauten zwei neue Begriffe aus der Pädagogik. Eltern überwachen immer stärker ihre Kinder, kreisen wie Hubschrauber über ihren Köpfen, ständig verbunden durch die "längste Nabelschur der Welt", das Handy – oftmals mit Überwachungssendern. Bald wird es im Körper implantierte Chips dafür geben.
Natürlich haben Eltern Ängste. Das ist normal. Und natürlich gilt es als das Schrecklichste, sein Kind durch Gewalt oder Unfälle zu verlieren.

Vor 30 Jahren war die Anzahl der Gewaltdelikte gegen Kinder doppelt so hoch wie heute, doch Kinder durften damals durchaus draußen spielen, heimlich in Abbruchhäusern, bauten Buden im Wald, streunten durch den Stadtpark oder fuhren Rad, 10 oder 15 Kilometer zum Badesee. Heute darf nur eins von acht Kindern in England selbstständig in die Schule gehen.

Und eine Lehrerin, die in der wunderbaren, verkehrsarmen Hamburger Villengegend Othmarschen pädagogisch sinnvoll anregte, dass die Kinder ihren Schulweg per Pedes und nicht per Auto zurücklegen, um sich vor der Schulzeit zu bewegen und abzureagieren, bekam wütende Anrufe von Müttern: eine Zumutung, eine Unverschämtheit. Obwohl die Gewalt, wie bereits gesagt, sich in den vergangen Jahrzehnten halbiert hat. Die Angst vor Kriminalität ist dagegen jedoch um das Vierfache gestiegen – dank monatelanger Berichterstattung in allen Medien, wenn etwas passiert und dank zu häufig konsumierter Krimis.

Wissenschaftler sprechen von "Elternhysterie" und "Elternparanoia", also der übersteigerten Angst bis hin zu hysterischen Anwandlungen.

Mit höchst negativen Folgen für die meisten Kinder: Lehrer trauen sich nicht mehr, Kinder zum Trost in den Arm zu nehmen, es könnte missverstanden werden. Und ich erwischte mich jüngst bei folgenden Gedanken: In einem vollen Kaufhaus hatte ein kleines Mädchen die Mutter verloren. Ich nahm sie an die Hand und wir suchten einige Minuten gemeinsam, bis mir durch den Kopf schoss: Meine Güte, das könnte man mir als versuchte Entführung auslegen.

Schleunigst gab ich das Kind bei zwei Verkäuferinnen ab. Eigentlich pervers mein Gedanke, abwegig aber vielleicht nicht. Denn wir erziehen mit der Angst Jeden zu tiefstem Misstrauen gegenüber allen, Männern schon eh. Und früh gelerntes Misstrauen kann das ganze Leben vergiften!- In Japan gibt es bereits das Massen-Phänomen der Hikikomori-Jugendlichen, die wegen sozialer Ängste, aber auch Gewaltmedienverseucht Jahre nicht mehr ihre Zimmer verlassen.

Die meisten Eltern wollen ihre Kinder zu selbstständigen Persönlichkeiten erziehen. Gut so! Komisch nur: Bloß nicht heute! Da stürzt eine Mutter hysterisch zu ihrem Dreijährigen, der eine sichtbar feste Leiter erklimmen will und reißt ihn weg. Was lernt das Kind durch solch eine Mutter: Ich bin zu blöd, ich darf nichts ausprobieren, ich darf aus meinen eigenen Fehlern nicht lernen, nicht meine Kräfte und Grenzen erproben und darf nicht stolz auf mein eigenes Tun sein.

Durch extreme Elternhysterie und – natürlich durch unzureichende Freiräume in den Städten - bleibt vielen Kindern nichts anderes übrig, als zu Hause herumzulungern. Natürlich ist das Leben voller Risiken, aber wir müssen sie meistern, nicht künstlich vermeiden! Kinder bleiben sonst alleine, isoliert, wie in einer "echolosen Welt", schlimmstenfalls wie in der Gummizelle: Niemand ist da, der antwortet. Alles ist steril, sie leben in einer Welt aus Plastik im virtuellen Schein ihrer Computer, es gibt keine "Vollwertkost für die Seele", wie ein bekannter Kindertherapeut es fordert. Es gibt nur das echolose "Als-Ob" und die sich steigernde Furcht vor dem "Draußen", allem "Fremden", der "Welt" gegenüber.

Wollen wir dies der nächsten Generation als Grundgefühl einimpfen: Furcht, Ängste, Bedrohungsphantasien? Mutig dagegen werden Kinder nur durch erprobten Mut, überwundene Ängste und Risiken, durchlittene Furcht. Und ihren Stolz auf sich selbst!



Astrid von Friesen, Jahrgang 1953, ist Erziehungswissenschaftlerin, Journalistin und Autorin sowie Gestalt- und Trauma-Therapeutin in Dresden und Freiberg. Sie unterrichtet an der TU Bergakademie Freiberg und macht Lehrerfortbildung. Zwei ihrer letzten Bücher: "Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die 2. Generation deutscher Vertriebener" (Psychosozialverlag 2000) sowie "Von Aggression bis Zärtlichkeit. Das Erziehungslexikon" (Kösel-Verlag 2003. Zuletzt erschien "Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus: frustrierte Frauen und schweigende Männer", Verlag Ellert & Richter.
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Astrid von Friesen© privat