TV-Ritual für die gesamte Gesellschaft

Moderation: Ulrike Timm |
Wer Deutschland verstehen will, der muss "Tatort" gucken. Das sagen immer häufiger auch Wissenschaftler: Aktuell findet in Göttingen gerade eine große "Tatort"-Konferenz statt. Die Reihe ritualisiere das Fernsehschauen, meint der "Tatort"-Forscher Stefan Scherer.
Ulrike Timm: Was die "Tagesschau" mal war, ist der sonntägliche "Tatort" für viele immer noch: eine echte Tradition und Kult sowieso. Der erfolgreichste Krimi ist stets regional verankert. Am Sonntag löst das Team vom Bodensee, Klara Blum und Kai Perlmann, seinen 21. Fall.

800 Tatortfolgen wurden seit 1970 ausgestrahlt, beim ersten, beim "Taxi nach Leipzig", da ermittelte ein grummeliger Kommissar Trimmel grenzüberschreitend - der Tote findet sich auf einer Raststätte der Transitautobahn Bundesrepublik-DDR.

Wer Deutschland verstehen will, der muss "Tatort" gucken. Das sagen immer häufiger auch Wissenschaftler und analysieren die Krimis als Soziologen, Historiker und Literaturwissenschaftler. Vielleicht wollen sie ja auch nur das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.

Jedenfalls findet derzeit eine große "Tatort"-Tagung statt, und wir sprechen jetzt mit einem regelrechten "Tatort"-Forscher, mit Stefan Scherer, und im bürgerlichen Leben ist er Professor für Literaturwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie und Medien. Schönen guten Tag, Herr Scherer!

Stefan Scherer: Guten Tag!

Timm: Wie sind Sie zu Ihrem Forschungsgegenstand gekommen - als Fan?

Scherer: Ja. Ich habe also immer "Tatort" geguckt - aber man muss sich dann auch mit Kollegen finden, die dasselbe Interesse teilen, und das war eben in den 90er-Jahren Claudia Stockinger, die jetzt hier Professorin für Literaturwissenschaft in Göttingen ist -, weil ja diese Reihe über eine ungewöhnlich lange Laufzeit verfügt, ist die einzige, die so lange läuft, und weil sie eben gesellschaftliche Verhältnisse der Bundesrepublik abbildet, und das macht sie auch für Forschungsinteressen interessant.

Timm: Seit 1970 gibt es den "Tatort", das ist einsamer Rekord. Warum? Was lässt ihn so stabil durchhalten?

Scherer: Na, er ritualisiert das Fernsehzuschauen. Der Programmplatz Sonntagabend 20.15 Uhr ist ganz entscheidend, am Ende des Wochenendes, vor Beginn der neuen Arbeitswoche, das schafft ein gemeinschaftliches Erlebnis, das sich dann die Zuschauer eben auch am nächsten Montag über den "Tatort" unterhalten können, sich aufregen können.

Und so schafft der "Tatort" auch ein Zuschauerritual, sodass dann die Zuschauer den "Tatort" gucken, ohne notwendig auf den Eisner oder auf Klara Blum oder wen auch immer gespannt zu sein. Man guckt "Tatort", und eben nicht notwendig den Bodensee-"Tatort".

Timm: Aber damit das passiert, muss der Film stimmen oder zumindest in den allermeisten Fällen stimmen. Was ist denn das Rezept für diesen immer wieder erfolgreichen Krimi?

Scherer: Na ja, das Rezept ist erst mal das Rezept des Kriminalfalls überhaupt, das heißt, hier geht es um Moral. Ein Kapitalverbrechen sorgt dafür, dass die bürgerliche Ordnung gestört wird, und die Ermittlerfiguren setzen diese Ordnung wieder zurecht durch Überführung des Täters, und damit werden auch bürgerliche Wertvorstellungen bestätigt.

Und das ist reizvoll, weil das jedes Mal auf eine neue Weise, durch eine neuartig erzählte Geschichte, bei bekannten Ermittlerfiguren und Ermittlerfigurinnen geschieht. Man kennt die und verfolgt einen neuen Fall und weiß ziemlich sicher, dass er aufgelöst wird, und dass die Welt in Deutschland doch ganz gut eingerichtet ist.

Timm: Sorry, das gilt eigentlich für alle Krimis. Das Besondere am "Tatort" ist ja, dass er so regional verankert ist, da ist immer so ein bisschen ein Stück - ich sage es mal böse - Heimatkunde ist auch dabei, man lernt die ganzen Regionen Deutschlands durch den "Tatort" kennen.

Scherer: Genau. Das ist das Alleinstellungsmerkmal dieses Fernsehkrimiformats, weil er eben die föderale Struktur der Bundesrepublik abbildet, wie eben die ARD eben föderal organisiert ist. Jeder Sender beliefert die Reihe mit Einzelserien, die sich wechseln können, auch wechselnde Standorte erobern können, und so hat man auch zu Recht von der Landeskunde als Thriller gesprochen, obwohl der Regionalismus von Fall zu Fall gar nicht so stark ausgeprägt ist.

Das gehört zum Konzept des Begründers des "Tatort", Gunther Witte, der war damals Fernsehspiel-Abteilungsleiter des WDR und hat den Regionalismus starkgemacht. Aber er spielt von Fall zu Fall eben nur eine unterschiedliche Rolle, manchmal stärker und manchmal überhaupt nicht, weil eine Folge in Köln genauso gut in Stuttgart spielen könnte.

Timm: Aber es gibt immer ganz typische, herausragende Kommissare zum Beispiel, an die man sich noch über Jahrzehnte erinnert, ein Fall: Schimanski aus dem Ruhrpott, wo man erst mal dachte: der Täter, nicht der Kommissar; oder dieser hintersinnige Bienzle. Welches sind denn für Sie die stärksten "Tatort"-Figuren, die stärksten Kommissare, wo Sie sagen: Das hat die Marke wirklich gefestigt?

Scherer: Also die Marke wurde schon gefestigt durch Schimanski, weil in den 80er-Jahren der "Tatort" eine Krisenerfahrung hatte. Viele Sender, da liefen die "Tatort"-Kommissare der 70er - Finke, Haferkamp - aus, Trimmel und Lutz, und sie mussten neue installieren, und das hat nicht funktioniert, während Schimanski ab 1981 mit Duisburg-Ruhrort eben dann die ganzen 80er-Jahre dominiert hat und im Grunde, da auch diese Krise etwas verdeckt hat.

Dann gibt es eine Reihe weiterer Kommissare, also in den 70ern ist stilprägend Trimmel, Haferkamp, Kressin als James-Bond-Parodie, 80er dann Schimanski, und in den 90er- und 00er-Jahren pluralisiert sich das auch mit der Vielfältigkeit der Ermittlerteams - wobei ich persönlich als Forscher mich nicht nur für die Ermittlerfiguren interessiere, sondern eben auch für die Bildästhetik und filmischen Qualitäten. Und da spielen dann auch namhafte Regisseure wie Dominik Graf eine Rolle, die immer dann auch grandiose Folgen gedreht haben.

Timm: Wenn es heißt, wer Deutschland verstehen will, der muss "Tatort" gucken, dann können Sie uns vielleicht erzählen, welche gesellschaftlichen Strömungen, Probleme, wie sich Alltagsdeutschland in diesen Filmen widerspiegelt und verändert hat?

Scherer: Also in den 70er-Jahren herrscht eben das Problem bürgerliche Lebensvorstellungen, die durch die neue Jugendkultur, Nacktheit aufbrechen und dann Familienstrukturen irritieren oder aufbrechen oder zerstören.

Timm: Geben Sie uns ein Beispiel und erzählen uns davon?

Scherer: Na, das ist bei Haferkamp der Fall. Der ermittelt grundsätzlich in familiären Strukturen, nicht grundsätzlich, aber in der Regel, also auch zum Teil großbürgerliche Familien, und junge Leute begehren gegen ihre Eltern auf. Das ist ein vorherrschendes Modell in den 70er-Jahren. Das zerfällt dann. In den 80er-Jahren wird das eben schon pluralisiert. Mit Schimanski kommt ein vollkommen neuartiger Ermittler ins Spiel, der eben auch sehr stärker in das Milieu verstrickt ist.

Und so entwickeln die Sender auch immer neue Figuren und Konzepte, um da diese plural gewordenen Lebensverhältnisse in Deutschland abzubilden mit Themen, die dann in den 80er- oder auch Anfang der 00er-Jahre undenkbar waren, zum Beispiel "Tatorte" über das Problem von Intersexuellen. Das wäre um 2000 oder in den 80ern unmöglich gewesen und undenkbar gewesen. Und so erschließt der "Tatort" über neue Figuren auch neue Themen, die der Gesellschaft auf den Nägeln brennen.

Timm: Der Literaturwissenschaftler Stefan Scherer hat aus beruflichen Gründen schon 500 Tatorte geguckt und analysiert. Es gibt derzeit eine große "Tatort"-Konferenz in Göttingen. Eigentlich ist es ja erstaunlich, dass der "Tatort" als Krimi so oft gegen den Strich gestrubbelt ist. Der Mord ist manchmal nicht das Wichtigste. Die Kommissare wechseln, die Filme haben eine ganz unterschiedliche Ästhetik, es gibt eigentlich nicht so die "Tatort"-Handschrift. Erstaunt Sie das manchmal selber, dass trotzdem diese Marke "Tatort" so erfolgreich geblieben ist über mehr als 40 Jahre?

Scherer: Nein, das erstaunt mich nicht. Zunächst: Der "Tatort" ist keine Serie. Er ist vielfältig, er zeigt Einzelfilme in der Vielfalt aller Möglichkeiten, die einer Zeit zur Verfügung stehen, also im Format des Fernsehens, in der Programmstruktur und mit den filmischen Möglichkeiten, die eine Zeit hat. Und da ist er vollkommen offen, sodass auch nur ganz wenige Themen nicht behandelt werden, die durchaus tabuisiert sind, wie eben die RAF.

Aber die Offenheit wird abgefangen eben durch spezifische Formen der Serilität, die eingezogen werden, und eine ganz entscheidende Form dieser Serilisierung ist eben die Kontinuität der Ermittlerfiguren. Die schafft Vertrautheit für die Zuschauer, er kennt sie und weiß dann, was ungefähr auf ihn zukommt, obwohl unter Umständen eine Folge gesendet wird, die ganz neue Ebenen und Dimensionen präsentiert.

Timm: Das sagt der Wissenschaftler, der "Tatort"-Forscher Stefan Scherer. Hat der Fernsehzuschauer Stefan Scherer einen Lieblings-"Tatort"?

Scherer: Natürlich. Also das ist der "Tatort" des Bayrischen Rundfunks wegen ganz eigener Qualitätsansprüche durch die Redaktion. Die "Tatorte" des Bayrischen Rundfunks gefallen mir vor allen Dingen auch, weil sie grandiose Filme liefern, wie Dominik Grafs "Frau Bu lacht" von 1995 - das ist auch ein absolut grandioser Film. Und dieser Sender liefert im Durchschnitt eigentlich immer hohe Qualität, während andere Sender auch mit Mischkalkulation arbeiten. Also man kann nicht immer nur exzeptionelle Folgen ausstrahlen, weil diese unter Umständen den Zuschauer auch überfordern oder irritieren, man muss auch Krimikonfektionsware liefern, also das muss dann so ein bisschen ausbalanciert werden.

Timm: Stilistisch sind ja nicht alle "Tatorte" wirklich gelungen.

Scherer: Genau, ja.

Timm: Gibt es denn etwas, was Sie dringend verbessern würden?

Scherer: Also der "Tatort" muss eben auch Konfektionsware durchliefern, weil der Fernsehzuschauer des "Tatorts" umgreift, alle Altersgruppen.

Timm: Aber drehen wir es mal um: Wenn Ihre Forschung jetzt die Drehbuchautoren beraten könnte, was würden Sie den Drehbuchschreibern raten?

Scherer: Ich würde den Drehbuchschreibern nichts raten, weil die schon als Medienprofis wissen, was geht, was nicht geht, sie kennen die Grenzen, und sie haben ja zum Teil eben auch Originalitätsansprüche, die sie austesten, aber die eben nicht unbedingt durchzukriegen sind.

Und meine Erwartungen als Forscher an filmische Qualität, die wird ja bedient durch Folgen wie "Das Dorf" mit Ulrich Tukur, oder letzthin auch die mit Kommissar Lürsen, aber das kann der "Tatort" nicht auf Dauer stellen. Er muss auch ganz normale Konfektionsware liefern, damit der Zuschauer auf Dauer nicht überfordert wird und tatsächlich abspringt.

Ältere Zuschauer kommen da vielleicht nicht mehr mit, wenn eben die Drehbücher nicht so holzschnittartig gestrickt sind und berechenbar, eben noch einmal das, was passiert ist, in den Dialogen verdoppelt wird, wiederholt wird, dass man auch gelegentlich gähnt - aber das muss auch sein, weil eben der "Tatort" ein populäres Format über alle ... also die gesamte Bevölkerung funktioniert.

Und da muss man auch mit unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen arbeiten. Deswegen ist das ganz okay, dass ein "Tatort" auch mal schlechter ist.

Timm: Stefan Scherer, Literaturwissenschaftler und "Tatort"-Forscher, in Göttingen läuft gerade eine große "Tatort"-Konferenz. Ich danke Ihnen herzlich!


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