TUNIX-Kongress 1978

Wenn Gegenöffentlichkeit zum Mainstream wird

Die Nullnummer der alternativen "Tageszeitung", allgemein taz genannt, erschien im September 1978.
Die Nullnummer der alternativen "Tageszeitung", allgemein taz genannt, erschien im September 1978 mit einer Auflage von 55.000 Exemplaren. © dpa / picture alliance / Roland Witschel
Von Max Thomas Mehr · 24.01.2018
"Traum ist Wirklichkeit" - das war einer der Slogans des TUNIX-Kongresses 1978. Doch was ist aus den Träumen geworden? Max Thomas Mehr, der beim Kongress dabei war und viele Jahre für die "taz" gearbeitet hat, zieht Bilanz.
Die Erinnerung ist sehr lückenhaft. Sicher, ich weiß noch, mit wem ich auf dem Podium gesessen habe. Aber weiß ich das tatsächlich noch? Oder sind es nur die Fotos, die von diesem Kongress gemacht wurden und die mein Gedächtnis überlagern? Auf diesen Fotos bin ich mir, betrachte ich sie heute, fremd und auch irgendwie peinlich, ungepflegt, mal mit Zigarette vorm Mund und immer mit strähnigen, viel zu langen Haaren. Ich war mit Abstand der Jüngste auf dem Podium, 24 Jahre alt.

Aussteigen aus der Spirale der Gewalt

Technische Universität Berlin im Januar 1978. Auch die oberen Ränge des Audimax sind bedrohlich überfüllt. Es müssen mindestens 2.000 Zuhörer gewesen sein. Zehn Jahre nach 68, ein paar Monate nach dem "Deutschen Herbst", als Terroristen der Roten Armee Fraktion mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hans Martin Schleyer erfolglos ihre Gesinnungsgenossen aus dem Gefängnis freipressen wollten, die dann kollektiven Selbstmord begangen haben. Nun trafen sich in Berlin die "Spontis", wie sich die "undogmatischen Linken" damals nannten, zum TUNIX-Kongress. Das Ziel: Irgendwie auszusteigen aus der lähmenden Konfrontation zwischen dem Staat und der RAF.
Auf diesem Kongress machten sich ein paar Überzeugungstäter, darunter auch ich, in lockeren Thesen dafür stark, eine "Gegenöffentlichkeit" zu schaffen, ein Medium, in dem wir die Welt mit unseren Augen betrachten konnten. "Experimentiert, ohne zu wissen, wo ihr landet", stand auf einem selbstgebastelten Transparent, das von einer Brüstung herab hing, und an die Fensterfront hatte jemand in großen Buchstaben geschrieben: "Traum ist Wirklichkeit". Wir hatten Träume, aber nicht den einen großen Traum von der Weltrevolution. Stattdessen zum Beispiel: eine andere Tageszeitung, selbstbestimmt, ein eigenes Medium. Die Realität dieses Traums hieß dann ein paar Monate später einfach: tageszeitung, taz.

Rot-Grün und das WWW

Diese Realität war aber nicht nur traumhaft. Etwa wenn RAF-Sympathisanten die Redaktionsräume der Zeitung besetzten oder Autonome ihr Weltbild gedruckt sehen und Pädophile die (in Anführungszeichen) "freie" Liebe mit Kindern – im Blatt propagieren wollten. Bis Anfang der 90er Jahre quälte ich mich als Redakteur mit den Nachwehen all dieser Konfrontationen ab. Mit dem Fall der Mauer und der friedlichen Revolution hatten die sich eigentlich aufgelöst. Mit Rot-Grün, mit Schröder und Fischer an der Macht, hatte sich der Traum von der "Gegenöffentlichkeit" dann endgültig erledigt: deren Akteure waren nun Teil des breiter gewordenen Spektrums von Öffentlichkeit geworden. Bei aller Phantasie: das hätten wir uns auf dem TUNIX-Kongress 1978 nicht träumen lassen.
Warum es die taz heute immer noch gibt? Ich weiß es nicht. Da die "Gegenöffentlichkeit" von einst Mainstream geworden ist, bedarf es vielleicht einer neuen Gegenöffentlichkeit? Dafür bräuchte es aber keinen Tunix-Kongress mehr. Da reicht das World Wide Web.
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