"Die Familie ist dein Leben"
Familie ist wie die Luft zum Atmen, sagt eine Tschetschenin, die mit ihren acht Kindern seit fast sieben Jahren in Deutschland lebt. Doch was ist, wenn die Familie einem die Luft zum Atmen nimmt?
"Die Rolle der tschetschenischen Frau ist ganz klar definiert. Sie gehört zu einem Mann, das heißt ein Leben ohne Mann ist für sie eigentlich nicht vorgesehen, das ist kein Lebensmodell",
erklärt die Wissenschaftlerin und Menschenrechtlerin Marit Cremer. Die Tschetschenen sind eine relativ kleine Migrantengruppe in Deutschland. Die ersten von ihnen kamen direkt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hierher. Später folgten jene, die vor den beiden Tschetschenienkriegen flohen.
Kritik an den eigenen Traditionen ist ein Tabu
Jetzt flüchten sie vor dem Regime von Ramsan Kadyrow und der Armut im Land. In den vergangenen fünf Jahren haben rund 34.000 Tschetschenen einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Nur wenige haben allerdings auch eine Chance, als Flüchtlinge anerkannt zu werden. 2016 lag die Schutzquote bei gerade mal 4,3 Prozent.
Doch wer sind die Tschetschenen, die in Deutschland leben? Welche Werte und Traditionen sind ihnen wichtig? Welche Rolle spielt der Islam? Gibt es tatsächlich Schlägertruppen, die sich als Moralwächter aufspielen? Wer sich innerhalb der tschetschenischen Gemeinschaft umhört, findet durchaus Menschen, die bereit sind zu sprechen: über ihre Fluchtgründe, ihre Traditionen und ihren Glauben. Doch öffentlich reden? Da begegnet einem ein großes Zögern. In jedem Fall, wenn es um Kritik an den eigenen Traditionen geht. Die Recherche beginnt in einer Familie.
Drei Zimmer, neun Menschen
Eine Wohnung in Berlin Wilmersdorf: Hier leben neun Menschen in drei Zimmern. Aset Khamzatova ist 49. Seit fast sieben Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Berlin, geflohen aus einem kleinen Dorf unweit der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Seit 2012 hat sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Ihr Mann arbeitet bei einer Sicherheitsfirma. Fünf ihrer Kinder gehen noch zur Schule.
Gerade sind zwei ihrer Neffen zu Besuch und sitzen mit ihrem jüngsten Sohn beim Essen: Kartoffeln und gedämpftes Rindfleisch mit Zwiebeln. Gegessen wird am Esstisch im Wohnzimmer, das zugleich das Schlafzimmer von Aset und ihrem Mann ist. Der Raum für die Familie ist beengt, aber der Umgang miteinander entspannt. Wenn man Aset fragt, wie viele Kinder sie hat, nennt sie die Zahl acht voller Stolz. Stellt man ihr die Frage, was ihr Familie bedeutet, lacht sie auf und sagt: Was für eine absurde Frage!
"Natürlich ist Familie Dein Leben, Deine Gesundheit, Deine Luft zum Atem. Es ist alles. Ohne Familie, was ist das für ein Leben? Einsamkeit, das ist ein krankes Leben. Aber Familie ist Dein Glück, Deine Zukunft. Dank ihr leben wir. Mir scheint: Wenn es keine Familie gäbe, das gilt für jeden Menschen, wofür würde es sich lohnen zu leben, ohne Familie, ohne Freund."
Die Familie steht an erster Stelle
Familie aus tschetschenischer Sicht – das sind nicht nur Mutter, Vater, Kind, sondern dazu kommen Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen – auch zweiten oder dritten Grades. Traditionell sind die Tschetschenen in sogenannten Taips organisiert, vergleichbar mit einem Clan oder einen Stamm. Praktisch jeder Tschetschene weiß, welchem Taip er angehört. Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist groß, auch – oder gerade – bei denjenigen, die fern der Heimat wohnen. Die Wissenschaftlerin und Menschenrechtsaktivistin Marit Cremer erklärt:
"Mir hat es mal ein Tschetschene erklärt: Egal, wo Du bist, wenn Du jemanden triffst, der eben Tschetschenisch redet oder der sich irgendwie als Tschetschene zu erkennen gibt, dann seid ihr sozusagen Brüder, oder dann seid ihr Familienmitglieder, Verwandte. Man fühlt sich also zu der Gemeinschaft dazugehörig auch wenn man sich vielleicht aus der Heimat gar nicht kennt."
Marit Cremer hat über das Thema Bewältigungsstrategien von tschetschenischen Flüchtlingen im Migrationsprozess promoviert. Ihr Job: Projektleiterin beim deutschen Zweig der Menschenrechtsorganisation Memorial, die Ende der 1980er Jahre in Russland gegründet wurde.
Sie blättert in ihrer Berliner Altbauwohnung durch ihre Doktorarbeit, der Ausdruck umfasst mehr als 300 Seiten und wurde gerade als Buch veröffentlicht. Für diese Arbeit hat sie Tschetscheninnen im Alter von 22 bis 50 Jahren interviewt, die nach Deutschland geflohen sind.
Um dem Brautraub zu entgehen, heiratete sie
Aset Khamsatova stammt aus einfachen Verhältnissen, geboren zu Zeiten der Sowjetunion. Als diese zusammenbrach, war sie 23 Jahre alt. Eigentlich wollte sie Ärztin werden, erzählt sie. Acht Jahre ist sie zur Schule gegangen, hat die Mittelschule mit 15 abgeschlossen. Danach arbeitete sie in einem Lebensmittelladen. Dort lernte sie auch ihren Mann kennen. "Wissen Sie, wir waren drei Schwestern zu Hause, und immer wieder sind sie zu uns nach Hause gekommen, und haben um uns geworben, immer wieder. Ich habe immer abgelehnt, ich wollte studieren", erzählt Aset Khamsatova.
"Und mein Vater hat immer allen gesagt, wenn meine Tochter einverstanden ist, wenn sie den jungen Mann liebt, bin ich nicht dagegen. Aber das ist ihr Leben, sie wählt selbst, wen sie heiratet und wen nicht. Das hat er immer allen gesagt. Mein späterer Mann und ich kannten uns damals schon viereinhalb Jahre, wir waren aber wie Freunde. Aber dann wollte meine Tante mich mit jemandem verheiraten. Sie haben zwei Mal versucht, mich zu rauben, als Braut für diesen Mann, aber es ist ihnen nicht gelungen. Und da habe ich mir gedacht, bevor es ihnen beim dritten Mal gelingt, heirate ich lieber ihn, den ich schon kenne, als diesen anderen."
Ein archaisches Gewohnheitsrecht
Brautraub – das klingt archaisch und ist es auch. Adat ist das dazugehörige Stichwort, das die Wissenschaftlerin Marit Cremer liefert. Adat ist das tschetschenische Gewohnheitsrecht. Es galt in Tschetschenien bereits lange bevor der Islam im Nordkaukasus Einzug hielt – und gilt im Grunde bis heute.
Das Gewohnheitsrecht der Tschetschenen ist Jahrtausende alt, doch aufgeschrieben wurde es nie. Dennoch sei es im Wertesystem der Tschetschenen fest verankert – und ganz klar patriarchal ausgerichtet, sagt Marit Cremer mit Blick auf ihre Gespräche mit Tschetscheninnen. Die Grenzen sind also eng gesteckt. Doch was passiert mit denjenigen, die sie überschreiten?
Wer selbstbestimmt lebt, ist vorsichtig
Amina ist Mitte zwanzig, sie trägt ihre langen schwarzen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, ist dezent geschminkt – und will später noch ins Fitnessstudio. Ihr Blick ist direkt, ihr Auftreten von gelassenem Selbstbewusstsein. Sie kam im Schulalter nach Deutschland, hat hier Abitur gemacht, studiert inzwischen. Sie lebt ihr Leben weitestgehend so, wie sie es möchte. Eines will sie dennoch nicht: öffentlich darüber reden – und deswegen will sie auch nicht, dass ihre Stimme erkannt wird.
"Es ist grundsätzlich so, dass ich eigentlich in meinem Leben heute nicht mehr so viel darauf achte, was ich mache. Ich tue, was ich möchte. Aber wenn ich damit zum Beispiel in die Öffentlichkeit gehen würde oder protestieren würde, oder zum Beispiel mich irgendwie so verhalten würde, dass es die Aufmerksamkeit von den anderen in der Gemeinschaft anzieht, dann würde man alles, was ich tue unter die Lupe nehmen. Und das hat dann Einfluss auf meine Familie.
Auch wenn mir es egal ist, was da in der Community, in der Gemeinschaft über mich gesagt wird, ist es mir doch nicht egal, welche Konsequenzen das dann für Familienmitglieder von mir hat. Es ist sehr schwer, das zu erklären. Nur wenn man in so einer Gemeinschaft aufgewachsen ist, weiß man um diese Zusammenhänge. Es ist dann wie Domino, das kannst Du nicht mehr rückgängig machen."
(gekürzte Online-Fassung / mw)