Traurige Ballade von der nutzlosen Eins

Von Florian Felix Weyh · 29.05.2008
Den ersten goldenen Nagel schlug Johann Bernhard Basedow in den 1770er Jahren ein. Dies trug sich an seinem Dessauer "Philanthropinum" zu, einer Lehranstalt, in der Immanuel Kant die "Stammmutter aller guten Schulen" sah. Zur Freude des Aufklärungsphilosophen schwor Basedow mit der "Meritentafel" auf ein Holzbrett, in dem die Fortschritte der einzelnen Scholaren durch eingeschlagene Nägel öffentlich gemacht wurden.
Was man als Beginn der Leistungsdruckgesellschaft sehen könnte, war tatsächlich ein Aufstand gegen das gesellschaftliche Korsett der Zeit. Im Dessauer Institut gab es zwar "Reichtumstage" und "Standestage", an denen die Besser- und Höhergestellten bei Speis und Trank bevorzugt wurden, aber erstmals eben auch "Meritentage", die allein die Zahl und Qualität der erdienten Nägel werteten, nicht Herkunft oder Geldbeutel.

Andernorts in Europa vollzog sich der nächste Schritt. William Farish, ein Tutor an der Universität Cambridge, war 1792 der aufwändigen individuellen Bewertung seiner Studenten überdrüssig und sann auf Abhilfe: Um wie viel effizienter ließ sich der Unterricht durchführen, konnte man die Schüler nach ihren Leistungen kategorisieren?

Der Gedanke gebar die Schulnote und damit die numerische Vermessung des menschlichen Geistes insgesamt, bis hin zum späteren IQ. Selbst notenskeptische Reformpädagogen kommen heute nicht umhin, ihre Zöglinge irgendwann diesem System auszusetzen, auch noch so sanfte Kuschelpädagogik endet stets mit einer Abschlussnote.

Die moderne, arbeitsteilige Gesellschaft mag nämlich auf diese Ordnungs- und Sortiervariable nicht verzichten. Blickt man zurück zu den Ursprüngen der Meritentafel, weiß man das durchaus zu schätzen: Wo das Leistungsprinzip regiert, wird eine Gesellschaft durchlässig, und wo es sich in Zahlen objektiviert, wird sie fair. So nannte Arnold Gehlen die Bildungsinstitute der Moderne nicht grundlos "Pumpwerke des Aufstiegs"; um ihrer Segnungen teilhaftig zu werden, braucht man nichts weiter als gute Noten.

Ach, wenn dem nur wirklich so wäre!

Dass schlechte Zeugnisse den Lebensweg junger Menschen nachhaltig behindern, ist ein oft erklungenes Lied; die traurige Ballade von der nutzlosen Eins hört man dagegen selten. Durchaus schmerzhaft erwacht jedoch manch erfolgsgewohnter Einserkandidat, wenn er zehn Jahre nach dem Abitur, summa cum laude promoviert, beim Klassentreffen mit leeren Händen dasteht: nach Rang und Noten noch immer der Beste, leider jedoch arbeitslos. Die schwächeren Mitschüler haben derweil die ersten Stufen einer ansehnlichen Karriere erklommen und feixen still vor sich hin: Streberei, das weiß man ja, zahlt sich nicht aus.

Da ist was dran. Seit Johann Bernhard Basedow seine goldenen Nägel in die Meritentafel hämmerte, verklärt ein utopisches Element der Bildung den Blick auf die raue Wirklichkeit. Eine Meritokratie - also eine Gesellschaft, in der ausschließlich Fleiß, Leistung und Können zählen - scheint heute so fern wie vor 250 Jahren; gewandelt haben sich lediglich die versteckten Einflüsse des Erfolgs. Herkunft und Reichtum sind ein bisschen zurückgetreten (doch keineswegs verschwunden), während soziale Fähigkeiten an Bedeutung gewannen.

"Sozial" lese man freilich als Terminus technicus, nicht als Lob; die Kunst, Seilschaften zu bilden, Intrigen zu schmieden, andere Menschen für eigene Zwecke einzuspannen, fällt kaum in die Kategorie Altruismus. Eben diese Fertigkeiten machen aber den Großteil erfolgreicher Berufsbiographien aus, während gute Noten einen eher geringen Anteil daran haben.

Der Keim des Scheiterns liegt oft schon früh in der Mühelosigkeit, mit der sich ein begabtes Kind eigenständig in der Wissenswelt zu orientieren weiß und daraus den verhängnisvollen Schluss zieht, es könne sich später im Studium lästige Lernkollektive ersparen. Das Kollektiv aber bahnt erst den Weg zum Erfolg. Dieser Wahrheit entkommt auch der bloß fleißige, durchschnittliche Schulstreber nicht, dessen Isolation in der Klasse von keiner guten Note aufgewogen wird.

Einen verblüffenden Aspekt entdeckten vor 30 Jahren dazu die Arbeitswissenschaftler Peter Perutz und Walter Stahel: Schulfaulheit, nicht Fleiß präjudiziere spätere berufliche Erfolge. Der bequeme Schüler sei gezwungen, aus dem Lernstoff Teile zu erwählen und dabei weiche Faktoren wie Lehrervorlieben zu beachten. "Erst nach der Schulzeit”, schreiben die Wissenschaftler, "bekommt diese ursprünglich defensive und häufig intuitiv vertiefte Fähigkeit ihre volle Wirksamkeit. Schließlich konnte man noch während der Schulzeit praktisch alles wissen, im beruflichen Leben ist die Kunst des Wählens Trumpf."

Darum sollten Eltern bei schlechten Noten gelassen bleiben und sich erst Sorgen machen, wenn ihr Kind unaufhörlich Einsen nach Hause bringt. Es wird im Leben womöglich scheitern.

Florian Felix Weyh, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Sein jüngstes Buch "Die letzte Wahl – Therapien für die leidende Demokratie" erschien im August 2007 in der Anderen Bibliothek. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.
Florian Felix Weyh, Schriftsteller und freier Journalist in Berlin
Florian Felix Weyh© Katharina Meinel