Tragische Edelseele

Von Eberhard Spreng · 13.12.2010
Der hohe Ton der Edith Clever ist im zeitgenössischen Theaterbetrieb mit seinem beiläufigen, oft von Mikroports verstärkten privaten Reden zur Ausnahme geworden. Aus ihm spricht eine alte, überwunden geglaubte Auffassung von Theater.
Selten, ja nur sehr selten kann man den unvergleichlichen, den hohen Ton der Edith Clever einmal ironisch gebrochen erleben, wie in der Wiener Inszenierung der "Zofen" von Jean Genet durch Luc Bondy im Juni 2008, wo die große Schauspielerin die "gnädige Frau" verkörperte, die mit dem im Gefängnis festsitzenden gnädigen Herren ein kapriziös zur Schau gestelltes Mitleid empfindet:

"Verzeihung, meine kleine Solange, verzeih mir, ich schäme mich, meinen Lindenblütentee zu verlangen, wo der gnädige Herr doch allein ist, nichts zu essen nichts zu rauchen, rein gar nichts hat."

Der hohe Ton der Edith Clever ist im zeitgenössischen Theaterbetrieb mit seinem beiläufigen, oft von Mikroports verstärkten privaten Reden zur Ausnahme geworden. Aus ihm spricht eine alte, überwunden geglaubte Auffassung von Theater. Ein Theater, das fernab von jedem Realismus in Anrufungen ausbricht, die bis hin zu den entferntesten Gottheiten reichen sollen, Rufe, Gesänge, Beschwörungen, die daran erinnern, dass das Theater sich als der Ort fürs Transzendentale versteht. Vor allem der mythenversessene Hans-Jürgen Syberberg hat für seine rhetorischen Rituale immer in Edith Clever sein ideales Medium gesehen, angefangen mit seiner Parsival-Verfilmung von 1982 bis hin zu einer Kleistschen Penthesiliea, die die Clever völlig allein über mehrere Stunden absolvierte.

Bereits in ihren ersten Arbeiten an der von Peter Stein geführten Schaubühne zeichnete sich eine Sonderrolle der bedingungslosen Aktrice ab. Ihre individualistische Haltung kam, wie es der Theaterprinzipal Stein einmal erklärte, mit den Regeln des damals als Kollektiv organisiertes Theaters in Konflikt. Die Clever polarisiert auch das Publikum mit ihrem fast kämpferischen Verständnis von Rollenarbeit. Der damalige Kollege Otto Sander erinnert sich an ungewöhnliche Proben- und Aufführungssituationen:

"Ich fand, sie ist immer an die möglichen Grenzen gegangen, zumal bei sich selbst und in Verbindung mit anderen. Wenn man sie beschreiben soll, dann würde ich sagen, sie ist eine sehr mutige Schauspielerin, die es wagt, so aus sich raus zu gehen, dass man immer nicht weiß, ist das jetzt noch gespielt oder ist das schon existenzbedrohend oder nicht."

Ihre Verkörperung der Agaue in den Bakchen, die, nachdem Dionysos sie in Rausch und Raserei versetzt und in den Mord an ihrem Sohn getrieben hatte, nun ihre Tat erkennen muss, gehört zu den ergreifendsten Momenten im deutschen Theater der letzten Jahrzehnte. Sie hat die Klytämnestra gespielt und später, unter eigener Regie die Medea. Sie war seit den antikenberauschten Spielzeiten an der Berliner Schaubühne eine tragische Edelseele, die die Frauenemanzipation mit weiblicher Griechenheroik auflud. Aber die Tragik sollte auch bis ins Zeitgenössische reichen, zum Beispiel in einem der großen Erfolge des damaligen Schaubühnen-Hausautors Botho Strauß.

Clevers Lotte in Steins legendärer Inszenierung von "Groß und Klein" hat Schaubühnengeschichte geschrieben: Das Leben einer Frau als Stationendrama: Typische Situationen zwischen Alltagsmenschen, rund um eine Protagonistin, die immer wieder auf ihre Einsamkeit zurückgeworfen wird. Auch Clevers Frauenfiguren in den berühmten Tschechow-Inszenierengen der Schaubühne jener Jahre bleiben in lebendiger Erinnerung. Aber mit den Jahren scheint sich der Resonanzraum für Clevers manieristisches Virtuosentum, ihre hochtrabende Kunstfrömmigkeit verändert zu haben. Menschen und Gesellschaft sind langweilig geworden und vernarrt ins Realistische.

Vielleicht auch deshalb betätigt sich die Schauspielerin seit einiger Zeit auch als Regisseurin, und hat zum Beispiel zusammen mit der ehemaligen Schaubühnenkollegin Jutta Lampe Becketts glückliche Tage realisiert. Wie immer mit einem geschärften Blick für die condition féminine, für das Leben aus weiblicher Sicht.