Tiefsinnige melodische Texte

Von Holger Hettinger · 05.01.2011
Von hintergründiger Bedeutung will der Theater-Reformer Valère Novarina nichts wissen, von einer übergeordneten Botschaft schon gleich gar nicht. Eine Geste ist eine Geste, ein Satz ein Satz - so einfach ist das. Und allein durch die Konzentration auf den ästhetischen Eigenreiz dieser Theater-Bestandteile erwächst die Sogkraft von Novarinas Theater-Wuchtstücken.
Der 63-jährige Novarina ist kein Weltverbesserer, der Theater macht. Im Gegenteil, moralische Appelle oder der Glaube an die Selbstheilungskraft einer aufgeklärten Gesellschaft sind nicht seine Sache. Dadurch, dass Novarina auf naive Illustrations-Effekte verzichtet und auf anbiedernde Anleihen an dem, was man im Theater "soziale Wirklichkeit" nennt, erhalten seine "tableaux vivants" aus Klang, Bewegung und Körperlichkeit eine fast schon magische Leuchtkraft.

Valère Novarina:"Es geht mir darum, Dinge wieder hörbar zu machen, die man anderswo nicht mehr vernimmt. Wir erleben doch eine gewaltige Verarmung der Sprache durch das, was wir Kommunikation nennen. Das führt dazu, dass ganze Gehirnbereiche nicht mehr oder nur noch im Traum arbeiten. Das Theater muss sie wecken, diese quasi nicht mehr bewässerten Gebiete, die Medien wie das Radio oder das Fernsehen anspricht, Bereiche der Erinnerung und der Vermittlung."

Die Sprache ist bei Novarina erst in zweiter Linie Bedeutungsträger – seine Theater-Texte funktionieren eher wie tiefsinnige Melodien, die Musikalität von Sprachrhythmus und –melodie sind wichtige Bestandteile seiner theatralischen Tiefenbohrungen.

Und so äußert sich Novarina denn auch skeptisch gegenüber all den Theater-Erklärern, die idealisierte Handlungsmuster auf der Theaterbühne deuten und Menschen als Modelle verstehen:

""Wir gehen an der Kultur- und Erklärungsindustrie zugrunde, die uns die Kulturingenieure zusammengebaut haben und die dabei ist, die Kunst zu vernichten. Die Leute müssen wieder begreifen, dass ein Bild oder eine Inszenierung für einen Menschen steht. Das ist nicht das abgelöste, geläuterte Werk eines Menschen, sondern genauso widersprüchlich und mysteriös wie der Mensch selbst. Eine Aufführung verändert sich ständig, bleibt unangreifbar und ist letztlich ein Mysterium""

Mag sein, dass es auch mit Valère Novarinas Hintergrund als Dichter und Maler zusammenhängt, dass er das Geheimnis mehr schätzt als dessen Entzauberung.

Die Uraufführung von Valère Novarinas "Le Vrai Sang" im Pariser Théâtre de l’Odeon hat Eberhard Spreng gesehen. Ein Gespräch mit ihm können Sie bis mindestens 5.6.2011 als MP3-Audio in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören.