Theologe Rainer Kampling

"Fundamentalismus ist Unglaube"

Ein pakistanischer Muslim liest den Koran während des Fastenmonats Ramadan in Peshawar.
Ein pakistanischer Muslim liest den Koran – ein Buch über die "Allbarmherzigkeit Gottes", wie der Theologe Rainer Kampling sagt © picture alliance / dpa / Bilawal Arbab
Moderation: Philipp Gessler · 02.11.2014
Das IS-Kalifat mache den Propheten Mohammed lächerlich, sagt der katholische Theologe Rainer Kampling – und erinnert auch daran, wie blutig die Geschichte des christlichen Abendlandes noch vor wenigen Jahrzehnten war.
Philipp Gessler: Von heute Abend bis Mittwochmittag findet in Berlin eine Tagung statt, die den schönen Titel trägt: "Keine Religion ist eine Insel – Judentum in Begegnung". Gelehrte aus aller Welt werden an ihr teilnehmen, unter anderem Susannah Heschel und Daniel Boyarin aus den USA, aber auch klangvolle Namen der hiesigen akademischen Szene wie Angelika Neuwirth, Walter Homolka und Katajun Amirpur. Veranstaltet wird das Wissenschaftlertreffen vom Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und von Wissenschaftlern der Freien Universität Berlin.
Einer von ihnen ist der katholische Theologe Rainer Kampling. Er kann in faszinierender Weise den Bogen spannen von der Begegnung des Judentums mit anderen Religionen seit der Antike bis zu der Begegnung etwa des Islam mit der heutigen Welt – und den Problemen, die damit einhergehen. Meine erste Frage an Professor Kampling aber war, was daran abwertend, ja vielleicht sogar antisemitisch war, wenn das Judentum bis Mitte des 20. Jahrhunderts als eine sehr isolierte, völlig eigenständige und ziemlich verschlossene Religion gesehen wurde.
Rainer Kampling: Das Grundproblem daran ist, dass es zu einer Ausgrenzung des Judentums, der Juden und Jüdinnen aus der europäischen Geschichte in jeder Hinsicht führte. Man konstruierte damit ein Judentum, das völlig isoliert in seiner Umwelt lebte, keinen Kontakt hatte, damit konnte man es als etwas Fremdes erklären. Das andere ist eben, dass es nicht partizipiert hat an den kulturellen Errungenschaften Europas, was zweifelsohne eine der historisch größten Unsinnigkeiten ist, aber dann zu einer Einschätzung führt, die sich besonders verheerend ausgewirkt hat, wie wir wissen – allerdings gibt es einen Punkt darin: Die Selbstisolation wurde dann als Fremdbeschreibung zur Eigenbeschreibung. Es gab durchaus die Vorstellung, dass dem so war.
Gessler: Genau da wollte ich auch nachfragen, weil ist denn nicht auch ein Funken Wahrheit an der Isolation dran, weil eben das Judentum eine nicht missionierende Religion ist, das heißt, es hat doch per se etwas Selbstgenügsames, oder nicht?
Kampling: Die Selbstgenügsamkeit ist auf erstaunliche Art und Weise jeder Religion zu eigen, würde ich sagen. Wir haben es tatsächlich mit einer interessanten neuzeitlichen Entwicklung zu tun. Als die jüdische Aufklärung, die Haskala, aufkam, die sich der Mehrheitsgesellschaft öffnen wollte, verwiesen nicht wenige darauf, dass die Juden ein hohes Maß an Selbstständigkeit hatten – eigene Gerichtsbarkeit in Zivilrecht, Eherecht und dergleichen, eigene Gemeindestrukturen.
Tatsächlich gibt es gerade im deutschen Judentum so eine Tendenz zur Selbstisolation. Dieses trifft aber schon zum Beispiel nicht zu für das holländische Judentum, noch weniger für das italienische. Es gab immer eine doppelte Existenz, nämlich die als bedrohte und auch eingeschränkte, aber gleichzeitig eine Existenz mit Offenheit für die umgebende Kultur.
Anders ist zum Beispiel auch nicht zu erklären, dass wir dann mit Beginn der Neuzeit eben auch sehr viele Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft haben, die sich ja an den gesellschaftlichen kulturellen Diskursen beteiligt haben – ob das nun in Italien bei der Gründung des Staates ist oder in Deutschland bei der Entwicklung wichtigster Kulturleistungen. Ich denke, es ist nicht so einfach, ja oder nein zu sagen, es ist eine Mischform, die übrigens auch regional wieder sehr unterschiedlich sein kann.
Gessler: Ist nicht generell heute das Problem bei den großen monotheistischen Religionen, dass sie sich immer mehr in sich selbst zurückziehen, weniger als früher den Austausch suchen, sondern auch verstärkt um sich selber kreisen?
Kampling: Auch hier ist wieder eine klassische Antwort zu geben: Ja und nein. Ja, weil auch die Religionen, bei denen man es vielleicht nicht so vermutet hat, sich nun den Herausforderungen der Moderne stellen müssen. Viel zu wenig wurde bedacht, dass die Grundstützen zur Veränderung sozialer Zusammenhänge sich auch auf religiöses Leben auswirken. Ein ganz einfaches Beispiel: Es ist sehr merkwürdig in einem Land, in dem Arbeitslose bis zu 100 Kilometer am Tag fahren müssen, um eine Arbeitsstelle anzunehmen, denen zu erklären, dass sie aber sonntags nur in eine bestimmte Pfarrgemeinde gehen dürfen. Also wir haben noch Modelle, die schlicht und einfach nicht in der Moderne angekommen sind.
Was wir erleben – und das ist verständlich, denke ich –, ist ein Diskurs über das Überleben und das religiöse Leben in der Moderne. Dieser Diskurs wird sehr heftig geführt und ist innenbezogen. Auf der anderen Seite, denke ich, gibt es so viele interreligiöse Austauschprogramm und interreligiöse Institutionen wie nie zuvor, und da muss man sagen, dass auch aufseiten der katholischen Kirche sich große Veränderungen durch "Nostra Aetate", also das Zweite Vatikanische Konzil, ereignet haben und wir eigentlich erst immer noch in der Einübungsphase sind.
Gessler: Ist denn der Austausch mit anderen Religionen eine Garantie gegen Fundamentalismus oder Extremismus in der eigenen Religion?
"Fundamentalisten können nicht damit umgehen, dass sie nicht mehr glauben"
Kampling: Gegen Fundamentalismus und Extremismus gibt es kein Medikament, befürchte ich. Fundamentalismus und Extremismus sind ja zunächst einmal sehr paradoxe Erscheinungen, wir haben interessanterweise ja in allen Religionen. Wer hätte gedacht, dass Buddhisten andere Menschen umbringen wegen ihres Glaubens, also wie wir es erleben, sie galten uns immer als Maßstab der Friedfertigkeit.
Ich selber habe dazu natürlich zunächst einmal eine theologische Einschätzung: Mir erscheint Fundamentalismus als Ausdruck mangelnder Glaubensfähigkeit. Fundamentalisten erachte ich für Menschen, die nicht in der Lage sind, damit umzugehen, dass sie nicht mehr glauben. Denn wenn sie glaubten, würden sie sich so nicht verhalten. Und bevor man nachfragt: Ja, ich glaube auch, dass im Mittelalter gewisse Leute nicht geglaubt haben, wenn sie gedacht haben, sie tun das Werk Gottes. Also der Fundamentalismus ist eine Krise der Neuzeit. Das ist schlicht und einfach eine Antwort auf die Krise der Neuzeit. Es ist kein vorneuzeitliches Projekt oder Produkt, sondern es ist die Schwierigkeit des Glaubens in der Moderne, und Fundamentalismus ist die Sicherung der Glaubensmöglichkeit durch glaubensferne Instrumente. Und daher würde ich sagen, ist es Unglaube.
Gessler: Ich muss Sie das fragen, weil das uns im Augenblick ja sehr beschäftigt, nämlich der Islam: Haben Sie denn die Hoffnung, was manche sagen, dass der Islam durch den Austausch mit anderen Religionen irgendwie zu einer Reform kommen kann, die so viele fordern?
Kampling: Ich denke, das ist immer eine Schwierigkeit. Früher sagte man, der Islam müsse aufgeklärt sein – man hat offensichtlich vergessen, dass eine der größten Aufklärer oder angeblich größten Aufklärer erst mal einen sieben Jahre lang dauernden Krieg angefangen hat. Also ich bin da sehr skeptisch.
Was ist der Islam? Der Islam ist eine Weltreligion, die – das können wir nicht übersehen – in einer doch sehr geringen Prozentzahl, aber sehr lauten und gewaltbereiten Prozentzahl auffällt. Ich würde es anders formulieren: Ich denke, wenn die Menschen, die nun dem Propheten folgen und dem Koran, das täten, was dort stünde, dann hätten wir diese Probleme nicht.
Also das Hochmaß an, ja, Lächerlichmachung des Propheten durch Menschen wie Osama bin Laden oder das Kalifat, das sind ja in Wirklichkeit Verächtlichmachungen. Denn dort ist ja nichts zu spüren von der Allbarmherzigkeit Gottes, und das ist nun mal der erste Name, den Gott dem Propheten offenbart hat. Also deswegen wäre ich sehr skeptisch. Die Hoffnung wäre, dass der Islam, seine ihm innewohnenden und wirklich vorhandenen großen humanen Errungenschaften wirklich auch den Menschen dazu verhilft, dass sie es leben. Wenn natürlich islamische Würdenträger sich nicht in der Lage sehen, das zu vermitteln, aus welchen Gründen auch immer, finde ich das sehr bedauerlich.
Aber natürlich ist diese Frage, wie gehen wir damit um. Man müsste mit ihnen streiten, das ist, glaube ich, das eigentlich Interessante. Man müsste in der Lage sein oder auch Vertreter des Islams – und das sind sie in Deutschland, würde ich doch sagen, bis auf ein wenig Versperrte –, alle müssten in diese Diskurse eintreten: Ist zum Beispiel das Wahhabitentum in Saudi-Arabien wirklich ein Modell, das man transferieren kann? Und wir sprachen eben von Fundamentalisten – das Merkwürdige ist ja, dass Fundamentalisten ständig behaupten, sie würden das Althergebrachte leben und betonen, aber das tun sie ja nicht. Also wie wir jetzt mit Schrecklichkeit sehen, wenn sie wirklich dem Propheten nachfolgten, hätten wir dieses Problem nicht.
Gessler: Das heißt, tatsächlich ist der schöne Satz der Tagung "Keine Religion ist eine Insel" eine Aufforderung auch, nach den eigenen Wurzeln zu gucken und nach den Wurzeln, die häufig eben in der Toleranz liegen.
Kampling: Ja, dieser Satz geht ja auf Abraham Heschel zurück, seine Tochter wird ja das Eröffnungsreferat halten, und der Untertitel geht – einige werden es merken – auf Martin Buber zurück. Es gibt keine Religion, die allein ist, und es gibt auch niemanden, der fromm für sich selber ist. Also diese Tagung – außerdem, wie ich denke, schon hohen historischen Informationswert – will ja auch daran erinnern, dass Religionen immer in Prozessen des Zusammenlebens sind.
Und die Vorstellung, man könne gleichsam andere dazu bringen, diese Religion zu übernehmen, damit sie sich durchsetzt, hat es historisch gegeben, sie waren aber letztendlich nicht im Sinne der eigenen Religionen. Man muss auch über weite Teile der Geschichte des Christentums sagen, dem Christentum wäre es besser bekommen, wenn die Leute Christen gewesen wären. Der Blick auf den Islam ist immer ein wenig schwierig, weil ja auch vergessen lässt, was alles noch denkbar war vor wenigen, ja, man darf fast sagen Jahrzehnten in Europa. "Keine Religion ist eine Insel" heißt eben auch, der religiöse Mensch, die religiöse Gruppe oder die religiöse Gesellschaft ist darauf angewiesen, im Austausch mit anderen zu leben. Wenn dem nicht so ist, dann ist tatsächlich eine Störung da, die nach christlicher Auffassung gar eine Störung zur Schöpfung Gottes bedeutet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.