Theaterregisseur Richter: Thesen in der Papst-Enzyklika sind richtig

Moderation: Gabi Wuttke · 30.01.2006
Die Thesen des Papstes sind richtig, er zieht aber die falschen Schlüsse. Das meint der Theaterregisseur Falk Richter. Die Enzyklika "Deus caritas est" von Benedikt XVI. stelle zu Recht fest, dass in der Gesellschaft Liebe fehle, sagte Richter im Deutschlandradio Kultur. Doch er glaube nicht, dass deshalb nun alle katholisch werden und in einer vierköpfigen Familie mit Vater, Mutter, Sohn und Tochter leben müssten.
Wuttke: Die Liebe - ein so weitläufiges Thema, das auch der Papst in seiner ersten Enzyklika einschränken musste, es nicht erschöpfend behandeln zu können. Aber er versucht es in einem weiten Bogen über Eros und Nächstenliebe, die nur geben kann, wer sie selbst bekommt. In "Verstörung", dem aktuellen Stück des Autors und Regisseurs Falk Richter, scheinen die Menschen auf Nächstenliebe zu hoffen. Aber sie bleiben zu Weihnachten gemeinsam allein. Falk Richter ist jetzt zu Gast bei uns. Ich grüße Sie.

Richter: Guten Morgen.

Wuttke: Wer Liebe schenken will, muss selbst mit ihr beschenkt werden. Das ist einer der zentralen Sätze zur Nächstenliebe in der Enzyklika von Papst Benedikt XVI. Gibt es da von Ihrer Seite einen Widerspruch?

Richter: Nein, das kann ich so unterstreichen. Es gibt einige Passagen, wo ich sagen würde, die stimmen, da kann ich absolut ja zu sagen. Ich glaube auch, wer noch nie Liebe erfahren hat, weder in seiner Kindheit noch jetzt, der ist wahrscheinlich schwer in der Lage, selber Liebe zu geben. Oder wer auf eine Weise lebt, dass er gar nicht mehr dazu kommt, sich auf irgendwie andere Menschen einzulassen, der kann keine Bindungen aufbauen, der wird auch nie erfahren, was das dann heißt, geliebt zu werden.

Wuttke: Nicht nur in ihrer "Verstörung" klirrt es vor Kälte zwischen den Menschen. Was fehlt den Figuren, um sich zu wärmen, was ist das Verstörende?

Richter: Das Verstörende ist tatsächlich, dass alle so sehr mit sich selbst und ihrer Karriere beschäftigt sind oder mit den immer komplizierter werdenden Beziehungsgeflechten, dass sie eigentlich nicht mehr in der Lage sind, dem anderen noch irgendetwas zu sein oder dem anderen irgendetwas geben zu können. Oder dass sie das Gefühl haben, sie haben den Bezug zu sich selber vollständig verloren. Es sind im Grunde Leute, die ziemlich einsam durch eine relativ gehetzte, getriebene Kultur rennen, in der es zunehmend kälter wird, weil es keine Solidarität mehr untereinander gibt, weil die Leute auf sich alleine gestellt sind.

Wuttke: Also keine Solidarität, heißt das auch zuviel Egoismus?

Richter: Ja. Das ist ja mittlerweile auch so ein Diktum. Das wird ja auch rausgegeben im Grunde schon von unseren Politikern. Das ist jetzt die Zeit, in der jeder um sich selber bemüht sein muss. Es geht erstmal darum, dass man selbst aufpasst, dass man nicht arbeitslos wird, dass man irgendwie dran bleibt, dass man nicht abkippt, runterfällt von einem bestimmten sozialen Niveau. Weil man weiß, es ist eigentlich dann niemand mehr da für einen, der sich dann um einen kümmert. Also, man ist auf sich alleine zurückgeworfen und muss überleben.

Wuttke: Also auch in diesem Punkt, wenn der Papst sagt, um zu lieben, um Nächstenliebe weitergeben zu können, muss man Opfer bringen, muss man den Egoismus überwinden, also auch von dieser Seite aus kein Widerspruch von Ihnen?

Richter: Es ist so, dass er an vielen Stellen natürlich einfach Recht hat. Es ist auch so, dass er da gar nicht so revolutionäre neue Thesen aufstellt. Also was er feststellt, ist, dass mittlerweile unser Kapitalismus an einem Punkt angekommen ist, wo die Leute wirklich Angst haben, wo sie sehr auf sich alleine gestellt sind, wo sie ihre Wurzeln verlieren. Das hat etwas mit der Globalisierung zu tun, dass sich Familienstrukturen auflösen, dass die Leute gar nicht mehr unbedingt örtlich gebunden sind, dass sie sehr viel umher reisen, immer wieder neue Arbeit annehmen müssen. Da stimme ich ihm absolut zu.

Der Punkt ist nur, dass ich deshalb nicht den Schluss ziehen würde, jetzt müssen wir alle katholisch werden, jetzt müssen wir alle sozusagen die vierköpfige Familie leben - Mann, Frau, Sohn, Tochter - und jetzt müssen wir immer Sonntags in die Kirche gehen. Also ich glaube, es ist auch möglich, ohne sich dann zum Papst und zum Katholizismus zu bekennen, dass man anders versucht, ein irgendwie ganzheitlicheres Leben zu führen.

Wuttke: Aber man kann es ja auch als Konstanten werten, die er da aufzählt.

Richter: Ja. Es ist nur so, ich würde mich jetzt so ein bisschen dagegen wehren, zu sagen, das sind die Erkenntnisse des Papstes. Vieles sind einfach auch Allgemeinplätze, sind Sachen, das ist schön, dass er das noch einmal aufgeschrieben hat. Da habe ich auch nichts dagegen. Da kann ich gar nicht widersprechen. Aber das würden sicherlich viele Leute so akzeptieren.

Wuttke: Wir haben aber, zumindest in den letzten 25 Jahren, von der Liebe, vom Eros gar, nichts gehört aus dem Vatikan. Von daher ist ja die Frage, fanden Sie es nicht trotzdem überraschend?

Richter: Ja, es ist vielleicht interessant, dass er gerade jetzt, also wo doch wohl mittlerweile fast jeder gemerkt hat, dass wir in einer Gesellschaft leben, wo sich so die Sozialstrukturen auflösen, wo Bindungen im alten Sinne gar nicht mehr bestehen, wo auch die Verträge zwischen den Generationen aufgelöst sind, also zwischen Kindern, Eltern, Großeltern, wo alt werden eigentlich nur noch heißt, dass man so menschlicher Schrott ist, den keiner mehr haben will, um den sich bloß keiner mehr kümmern will, wo man bloß nicht krank werden sollte und so weiter, dass da einiges fehlt in unserer Gesellschaft, dass im Grunde Liebe fehlt. Das ist im Moment so, das ist einfach eine Tatsache. Und dass sich dann die Kirche dazu verhält, finde ich verständlich. Wenn man dann genauer liest, finde ich einfach seine Schlussfolgerungen falsch.

Wuttke: Inwiefern?

Richter: Na ja, er sagt zum Beispiel, Mutter Teresa als Beispiel an für einen Weg, wie man sich verhalten kann. Das stimmt zwar. Es ist aber auch möglich, dass man sich überhaupt Gedanken macht, wie lässt sich denn unsere Gesellschaft sozialer gestalten. Dass es nicht so ist, wir lassen das als Tatsache, als Fakt bestehen, so wie unsere Gesellschaft ist, und im Einzelnen kümmern wir uns um die Armen, im Einzelnen versuchen wir, Suppe auszuteilen, versuchen wir, den Menschen zu helfen. Sondern es müsste ein anderes Gesellschaftsmodell geben, das ein bisschen darüber hinausgeht.

Wuttke: Er sieht das nicht als Kollektiv, sondern bezieht das immer wieder zurück auf den einzelnen Menschen. Wenn der durch diese Stadien geht, sich selbst und seinen Egoismus zu überwinden, Opfer zu bringen, dann tut er ja das, was eigentlich im besten Fall zu dem führt, was Sie auch vermissen.

Richter: Das stimmt. Ich denke, dass über die Geschichte hin - Brecht hatte da auch schon sehr viel drüber geschrieben - es so war, dass die Kirche und das herrschende System immer irgendwie sehr gut zusammengearbeitet haben. Das heißt, wenn der Papst im Moment feststellt, dass unser Kapitalismus dazu führt, dass die Leute immer vereinzelter sind und immer mehr sich nach irgendetwas wie einen Halt oder eine Familie sehnen, dann ist es genau so, dass dann die Kirche eintritt und sagt, wir geben euch das.

Dann geben sie einem das vielleicht auch. Aber was sie einem auch geben, ist ein Zwangssystem, was dazu gehört. Man muss sich dann bestimmten Regeln unterziehen. Minderheiten werden letztlich ausgegrenzt. Es gibt ein ganz klares Bild. Es wird überhaupt nicht angezweifelt, dass unser Gesellschaftssystem so bleiben soll. Also, dann kann es ruhig auch Arme geben. Solange wir denen so ein bisschen Suppe geben, dann brauchen wir uns auch keine Gedanken darüber machen, dass unser Gesellschaftsmodell vielleicht an sich ungerecht ist. Und deshalb stimme ich da nicht mit dem Papst überein.

Wuttke: Das Gesellschaftsmodell, dass Sie sich vorstellen, wie wichtig ist denn darin die Liebe, die fehlt? Und ist die Liebe - ja muss ich noch einmal sagen - eine Konstante, die sich niemals verändert hat? Oder ist die Liebe im 21. Jahrhundert etwas anderes, als die romantische Liebe, die ja auch nur eine Sehnsucht war?

Richter: Also in meinem letzten Stück "Verstörung", da habe ich im Grunde versucht, es ist wirklich ein Stück über Liebe heute, über Beziehungen heute, und es ist tatsächlich so, dass in allen diesen Beziehungen das marktstrategische Denken eine große Rolle spielt oder Geld eine große Rolle spielt oder dass die Beziehungen tatsächlich so kompliziert geworden sind in irgendwelchen Patchworkfamilien, dass es eine große Managementleistung mittlerweile erfordert, überhaupt das alles zu organisieren, seine ganzen Kinder und Freundinnen, Frauen.

Wuttke: Wenn sie denn da sind.

Richter: Ja, die dann zu organisieren, wie die am Wochenende zu einem kommen.

Wuttke: Die Frauen oder die Kinder?

Richter: Die Kinder. Die Hauptfigur in diesem Stück ist ein Junge, der an einem Flughafen an Heiligabend vergessen wird von seinem Vater. Der vergisst einfach, den abzuholen, weil er einfach arbeiten muss. Ja, und dann gibt es so Begegnungen von Menschen nachts in Berlin, die sich kennen lernen, wo es aber tatsächlich fast darum geht, eher so das Körperliche abzuchecken, wie eine Ware.

Wuttke: Sehr schön, an dieser Stelle kann ich einsetzen. Auch um die Ware geht es in der Enzyklika, also der Mensch, der sich zur Ware macht, andere Menschen zur Ware macht, und das unter dem Stichwort Sex.

Richter: Ja, das stimmt. Ich kann immer nur sagen, dass der Papst Benedikt das alles sehr gut erkannt hat. Die Frage ist bloß, welche Schlussfolgerung ziehen wir daraus? Heißt es, dass wir jetzt eben fundamentalistische Katholiken werden oder heißt das, dass wir auf eine andere Weise aufgeklärt damit umgehen? Und ich bin eben ein Mensch, der eher an die Aufklärung glaubt.

Wuttke: Aber was ist denn für Sie Liebe?

Richter: Liebe - das wissen wir doch alle, oder? - da gibt es tatsächlich unterschiedliche Arten der Liebe. Also ich liebe einen Menschen, ich bin vollkommen verliebt, oder ich liebe einen Menschen über eine längere Zeit. Ich bin in der Lage, jemanden so anzuerkennen, wie er ist. Ich kann, will mein Leben mit jemandem verbringen - bei mir im speziellen Fall - ich will auch etwas Kreatives schaffen mit jemandem, den ich liebe.

Wuttke: Ist die Erfahrung der Liebe das Eine und die Projektion, die man auf Liebe hat, auf Definitionen von Liebe jeweils in den unterschiedlichen Zeiten, in den Jahrhunderten, ist das verschieden? Oder geht es letztlich immer um dasselbe?

Richter: Also natürlich gibt es immer andere Vorstellungen von Liebe. So die ganz romantische Liebe oder so etwas eher wie eine Ehepflicht. Es gab ja durch die unterschiedlichen Zeiten immer etwas Neues. Ich glaube im Moment eigentlich - und jetzt abstrahiere ich einmal von mir - ist im Moment unser Begriff von Liebe tatsächlich sehr mit Sexualität gekoppelt, denke ich, und mit Begehren. Und da geht es auch eher um Körper und den Wert eines Körpers und die Ware.

Darum geht es auch in meinem Stück ganz klar. Da gibt es eine Begegnung, wo es im Grunde nur um so eine Art Verhandlung und Auschecken geht, als würde man gerade um eine Ware Fleisch handeln. Ich glaube, letztlich ist es dann doch immer wieder etwas sehr Persönliches und etwas, was man erfährt. Und in dem Moment, wo man liebt oder geliebt wird, dann ist das Leben einfach tausendmal schöner, als wenn man es nicht ist.

Wuttke: Ein letztes Zitat des Papstes, die Liebe ist eines der meist missbrauchten Wörter dieser Zeit.

Richter: Ja, im Taxi auf dem Weg hierher bin ich an so einem Pornoladen vorbeigefahren. Da stand auch irgendetwas mit "Love" drauf oder "Liebescenter". Das ist natürlich das Gegenteil. Also, alleine in der Pornokabine zu sitzen und Videos zu gucken, ist natürlich das Gegenteil von Liebe. Insofern ist das quatsch, wenn da Liebe drauf steht. Da steht Liebe drauf, da ist aber Porno drin. Insofern hat er schon Recht, das wird unheimlich viel benutzt.

Oder auch in den Vorabendserien - Verbotene Liebe, was weiß ich, Marienhof, das ganze Zeug - was da an Liebesbildern gezeigt wird, das ist so überromantisiert, das findet in der Realität einfach nicht statt. Es ist eher so, wenn diese Sachen dauernd im Fernsehen laufen, dass die Leute real in ihrem Leben darunter leiden, dass sie das nicht haben. Es müsste im Grunde eigentlich nur einmal jemand kommen und ihnen sagen, das hat niemand, das gibt es gar nicht.

Oder auch der Begriff Liebe in der Popmusik ist vollkommen inflationär benutzt. Das stimmt, das Wort haben wir mittlerweile dauernd. Auch das Fest der Liebe - Weihnachten - und dann ist es doch eher das Fest der Einsamkeit oder das Fest des Kaufrausches. Den Begriff benutzen wir andauernd, wahrscheinlich, weil sich jeder danach sehnt und wahrscheinlich, weil es in unserer Gesellschaft wirklich so selten vorkommt. Und deshalb wird es so oft benutzt und wird zum Fetisch im Grunde.

Wuttke: Das heißt auch, das Wort zu benutzen schützt uns nicht dafür, im Klirren der Kälte unter Umständen zu erfrieren?

Richter: Das stimmt, ja.

Wuttke: Über die Liebe, der Autor und Regisseur, Falk Richter. Sein Stück "Verstörung" an der Schaubühne in Berlin ist in der kommenden Woche wieder zu sehen. Und all seine Stücke sind kompakt in einem Taschenbuch nachzulesen. Es heißt "Unter Eis". Vielen Dank, Herr Richter.

Richter: Danke Ihnen.
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