Tabletten gegen chronische Schmerzen

Andreas Kopf im Gespräch mit Katrin Heise · 21.09.2011
Rund sechs Millionen Menschen leiden allein hierzulande an chronischen Schmerzen. Damit könnte mit einer neuen Generation von Schmerzmitteln bald Schluss sein, wie Andreas Kopf, Leiter des Schmerzzentrums der Berliner Charité, deutlich macht.
Katrin Heise: Rund sechs Millionen Menschen leiden hierzulande an chronischen Schmerzen. Doch jetzt haben Forscher in Cambridge ein Gen namens HCN2 identifiziert, und das kann wohl diese dauernde Pein kontrollieren. Die im Wissenschaftsmagazin "Science" veröffentlichten Ergebnisse könnten der Grundstein für eine neue Generation von Schmerzmitteln sein. Ich spreche über den chronischen Schmerz und die Folgen seiner Bekämpfung mit dem Mediziner Andreas Kopf, der an der Berliner Charité das Schmerzzentrum leitet. Schönen guten Tag, Herr Kopf!

Andreas Kopf: Ja, guten Tag, Frau Heise!

Heise: Herr Kopf, wann ist ein Schmerz eigentlich chronisch?

Kopf: Die offizielle Definition ist, dass jeder Schmerz, der länger als sechs Monate anhält, ein chronischer Schmerz ist, aber das ist nur die eine Hälfte der Geschichte, weil es einen Unterschied gibt, ob ich dauerhaft Schmerzen habe oder ob diese Schmerzen zum Mittelpunkt meines Erlebens werden, das heißt, eine eigene Erkrankung wird, die mein ganzes Leben beeinträchtigt. Das heißt, dass ich dann eine chronische Schmerzkrankheit habe.

Heise: Werden chronische Schmerzen eigentlich anders im Körper übertragen als akute Schmerzen, also meinetwegen jetzt eine Verbrennung oder ein Hundebiss oder so was?

Kopf: Ein akuter Schmerz ist ja immer ein Warnsignal für uns, das heißt, der Nerv wird an seinem Ende erregt, gibt die Informationen weiter. Unser Gehirn kann sagen, ja, da und da passiert es am Körper, und andere Zentren können sagen, das ist jetzt gefährlich für mich. Ein chronischer Schmerz ist ja ein Schmerz, der keine Warnfunktion mehr hat, denn die eigentliche Gewebezerstörung liegt schon lange zurück. Das heißt, dass ein Schmerz entsteht aus dem Nervensystem selbst. Also, es gibt eine Veränderung des Nervensystems, die eben dauerhaft Schmerzen erzeugt, und wenn dann noch dazu die Verarbeitung oder die Bewältigung dieser Schmerzen gestört ist, dann kann das das ganze Leben beeinträchtigen.

Heise: Was hat es mit den Erkenntnissen der Forscher in Cambridge über das Gen HCN2 eigentlich auf sich? Was haben die entdeckt in Sachen chronischer Schmerz?

Kopf: Die haben entdeckt, welches Gen einen bestimmten Kanal, Ionenkanal, über den Informationen im Nerv erzeugt werden, wie dieses Gen das beeinflusst. Das heißt also, wenn man dieses Gen ausschaltet, das ist ja wie ein bestimmtes Eiweiß, dann hat der Körper nicht mehr die Möglichkeit, die Information über diesen Ionenkanal weiterzugeben. Und man geht davon aus, dass dieser Ionenkanal die Ursache dafür ist, dass der Nerv sich nachhaltig verändert, das heißt also, nachhaltig beispielsweise immer wieder feuert, immer wieder Signale abgibt, dass Schmerz da ist, obwohl die ursprüngliche Gewebezerstörung gar nicht mehr vorliegt.

Heise: Also das heißt, diese falsche Informationsübertragung würde abgeschaltet werden?

Kopf: Die würde erst gar nicht zugelassen werden. Ob man sie damit abschalten kann, ist die Frage, wahrscheinlich müsste man es so einsetzen, dass man es gleich am Anfang einsetzt, sodass es erst gar nicht zu dieser Veränderung des Nervens, zu seiner neuroplastischen Veränderung – so nennt man das – kommt.

Heise: Das heißt, wenn das tatsächlich alles so ist, dann ist Schmerzfreiheit, oder besser, die Freiheit vom chronischen Schmerz möglich?

Kopf: Das wäre theoretisch richtig so. Es gibt Einzelfälle, die beobachtet worden sind, bei denen Menschen genetische Veränderungen haben, bei denen genau eine solche Schmerzfreiheit für anhaltende Schmerzen vorliegt, und das wäre möglich. Allerdings muss man solche Meldungen immer mit großer Vorsicht ansehen, weil diese Kanäle sind bereits seit längerer Zeit bekannt.

Schon seit Jahren wird daran gearbeitet, etwas zu finden, was dafür spezifisch ist. Leider ist es so, dass diese Kanäle auch dafür da sind, dass wir etwas lernen können. Das heißt, man könnte sagen, dass chronischer Schmerz, dass der Preis dafür ist, dass wir etwas lernen. Bisher ist es so, dass, wenn man diese Kanäle blockiert, man zwar keine dauerhaften Schmerzen mehr hat, das kann das Nervensystem nicht mehr lernen, man kann aber auch sonst nicht mehr lernen.

Heise: Das heißt, Schmerz und Lernen sind gekoppelt?

Kopf: Richtig, das ist ein Lernvorgang, den unser Nervensystem machen kann. Das Nervensystem ist nicht wie ein Telefonkabel – wenn ich den Telefonhörer auflege, ist das Telefonkabel ja unverändert – sondern das Nervensystem verändert sich unter Reizzuständen und kann dadurch eben Lernvorgänge dauerhaft für sich behalten. Und so kann es natürlich auch Schmerzen behalten. Das ist bei einem gewissen Prozentsatz jeder akuten Verletzung möglich.

Also, auch nach einer Operation gibt es einen kleinen Anteil von Menschen, die auch noch ein Jahr danach gewisse Beschwerden haben, obwohl die Ursache der Operation – Tumor, Entzündung – entfernt worden ist. Das heißt, es gibt immer das Risiko eines sozusagen falschen Lernens im Nervensystem. Und wenn man gezielt nur diese Art des Lernens ausschalten könnte, wäre das fantastisch. Wahrscheinlich wird es aber so sein, dass man damit auch andere Lernvorgänge unterbricht.

Heise: Hoffen Sie eigentlich, wenn Sie das alles bedenken, auf dieses Gen, auf die Identifizierung und auf das tatsächliche Anwenden können der Kenntnisse?

Kopf: Auf der einen Seite wäre es natürlich eine schöne Vorstellung, dass es so etwas gibt wie ein schmerzfreies Leben – es gibt ja inzwischen schon Initiativen, die heißen schmerzfreie Klinik oder schmerzfreies Krankenhaus oder Recht auf Schmerzfreiheit –, auf der anderen Seite muss man sich natürlich fragen: Wie würde sich möglicherweise unsere Gesellschaft verändern, ja? Was passiert, wenn wir möglicherweise eben eine Gesellschaft haben, bei der bestimmte Erfahrungen einfach nicht mehr möglich sind, die über Schmerzen möglich sind.

Man kann das schlecht vorhersagen, weil ja nicht der Schmerz an sich ausgeschaltet wird, sondern es wird ja nur die Chronifizierung von Schmerz, also das Lernen von Schmerzen wird ausgeschaltet. Von daher würde ich annehmen, dass dies also jetzt keine Konsequenzen hätte für unser Zusammenleben, sondern eben wenn, dann eher nur eine individuell positive Erfahrung sein würde.

Heise: Im Deutschlandradio Kultur ist Andreas Kopf mein Gesprächspartner. Er leitet das Schmerzzentrum in der Berliner Charité. Herr Kopf, ich würde gerne darauf noch mal eingehen, was sie gerade angesprochen haben, Schmerz und Gesellschaft. Schmerz wird zwar individuell, aber natürlich im sozialen Umfeld erfahren, das heißt doch, je nach Gesellschaft wird der Schmerz oder wird Schmerz auch anders empfunden, anders erlebt und hat auch eine andere Bedeutung, oder?

Kopf: Ja, also, wenn Sie jetzt einen Physiologen bitten, Schmerz zu untersuchen, dann wird er bei jedem Menschen auf der Erde, egal wo er lebt, immer das Gleiche am Nerven messen. Das heißt also, das Elektrophysiologische ist immer gleich. Aber je nach Region, je nach Kultur, auch je nach Individuum und der aktuellen Situation wird die Empfindung für den Schmerz, also wie die Bedeutung für den Schmerz ist, unterschiedlich sein. Das heißt, von daher gibt es eigentlich nur ein individuelles Schmerzempfinden.

Heise: Nehmen wir heute in dieser, in unserer westlich-industrialisierten, reichen Gesellschaft einfach auch mehr Schmerzen wahr als früher und woanders?

Kopf: Es ist so, dass über die ganze Menschheitsgeschichte hin wir eigentlich prinzipiell ein sehr gutes Coping, ein sehr gutes Bewältigen von Schmerzen haben müssten, denn wir haben ja bis vor 150 Jahren weder Äther noch Morphin gehabt, das heißt, vorher gab es gar keine Möglichkeiten, Schmerzen positiv zu beeinflussen. Und bis heute gibt es das ja mit Ausnahme von Westeuropa, Nordamerika nirgendwo auf der Welt. Deswegen müsste es eigentlich so sein, dass wir eine ausreichende Bewältigung für Schmerzen haben. In der Praxis ist es so, dass die Möglichkeit, Schmerzen zu behandeln, dazu geführt hat, dass aber immer mehr Patienten erscheinen, die Schmerzbehandlung benötigen. Das ist, glaube ich, nicht deswegen, weil wir mehr Patienten mit Schmerzen haben, sondern weil wir jetzt das Angebot haben, Schmerzen auch behandeln zu können.

Heise: Im Schmerzzentrum der Charité können Sie den Patienten ja die Schmerzen nicht nehmen. Sie helfen Ihren Patienten, den Schmerz zu kontrollieren. Wie fließt das, über das wir gerade gesprochen haben, also Schmerz und Gesellschaft, eigentlich in Ihre Arbeit ein?

Kopf: Das spielt ganz deutlich eine Rolle, weil unser heutiges Modell von chronischen Schmerzen und auch von akuten Schmerzen durchaus ist ja nicht mehr die Vorstellung, dass es sich hierbei nur um eine Nervenerregung handelt, sondern unsere Vorstellung ist, dass Schmerzen immer determiniert werden von der Umwelt, also dem sozialen Umfeld, von dem Individuum, also seinem seelischen Zustand, und durchaus auch von seinem spirituellen Zustand, also, wie ist die Sinnfrage für ihn, wo befindet er sich in seinem Leben. Und nur unter Betrachtung dieser ganzen Aspekte sind wir in der Lage, Schmerz richtig zu verstehen und richtig zu behandeln. Das heißt, chronische Schmerzen sind immer etwas, was mehrdimensional verstanden und auch behandelt werden muss.

Heise: Tut es eigentlich gut oder verschafft es Erleichterung, Schmerzen zu zeigen?

Kopf: Das Zeigen von Schmerzen, das heißt also, das Nonverbale, ist ja universell in der ganzen Welt. Das heißt also, wir würden auch verstehen, wenn ein Pygmäe Schmerzen hat, weil das scheint ein universelles Kommunikationsmittel zu sein. Das Zeigen kann dann entsprechend der Kultur unterschiedliche Reaktionen hervorrufen.

Das ist dann etwas, was ein gelerntes Verhalten ist. In einer Kultur wird es so sein, dass das Zeigen dazu führt, dass ich in den Mittelpunkt der Gesellschaft komme, alle werden sich um mich kümmern. Das kann einerseits eine stützende Funktion haben, andererseits aber auch Schmerz durchaus verstärken, möglicherweise auch die Genesung verlangsamen. Umgekehrt kann jemand, der aufgrund einer Erkrankung isoliert wird, dadurch schneller gesunden, aber auch dadurch, durch die Privation, wiederum schlechter werden. Das heißt, das sind ganz individuelle kulturspezifische Reaktionen, die positive und negative Einflüsse immer gleich haben.

Heise: Welche Folgen hätte eigentlich eine Welt ohne Schmerzen?

Kopf: Eine Welt, die überhaupt keine Schmerzen hat, könnte es nicht geben, weil ohne die schützende Funktion von Schmerzen würden wir uns Situationen aussetzen, die immer wieder zu Erkrankungen und wahrscheinlich auch zu relativ frühzeitigem Tod führen würden. Ob eine Welt ohne chronische Schmerzen eine schlechtere Welt wäre, weil uns dadurch Erfahrungen fehlen, wie einige schreiben, das kann ich mir nicht vorstellen, denn im Grunde ist der chronische Schmerz – also, der mich jetzt mit einer andauernden Gewebszerstörung wie bei Rheuma oder Tumor einhergeht – eigentlich eine sinnlose physiologische Reaktion. Das heißt, wir würden nur eine sinnlose physiologische Reaktion beseitigen.

Heise: Und das wäre wünschenswert?

Kopf: Das wäre aus meiner Lage wünschenswert, und ich glaube nicht, dass wir dadurch wichtige Erfahrungen verpassen würden.

Heise: Andreas Kopf, er leitet das Schmerzzentrum an der Berliner Charité. Herr Kopf, vielen Dank für dieses Gespräch!

Kopf: Gern geschehen!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.