Syrien stirbt im Bürgerkrieg

Von Reinhard Mutz |
In Syrien geht das Töten weiter, blindwütig und mit ungehemmter Brutalität. Denn immer noch zögern die Bürgerkriegsparteien, sich an einen Tisch zu setzen und zu verhandeln. Dabei ließe sich der Konflikt nur durch einen Interessenausgleich beilegen, meint der Friedensforscher Reinhard Mutz.
Martin E. Dempseys Wort hat Gewicht. Er ist der ranghöchste Soldat der Vereinigten Staaten. Sein Brief an den Streitkräfteausschuss des Senats in Washington erregte Aufsehen. Auf den ersten Blick beschreibt und erläutert er die verfügbaren Optionen für einen Militäreinsatz in Syrien.

Doch zwischen den Zeilen verkündet er das Gegenteil – die Absage an jede Art bewaffneten Vorgehens von außen. Zu riskant, zu teuer, zu unausgegoren, so sein Urteil, wenn nicht gar kontraproduktiv. Sollte in Damaskus der Regierungsapparat zusammenbrechen, ohne dass eine handlungsfähige Opposition existiere, würden ungewollt die Extremisten gestärkt. Und so dürfte es auch das Weiße Haus sehen.

Dies bedeutet: Mangels Erfolgsaussicht hat Präsident Obama im syrischen Bürgerkrieg die militärische Karte einstweilen zur Seite gelegt. Die Regierungen in London und Paris, vor Monatsfrist noch gegenteiliger Meinung, sind ihm eilfertig gefolgt.

Die Einsicht kommt spät. Denn es herrscht ja kein Mangel an leidvoller Erfahrung, dass rechtsstaatliche Demokratien, die Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten hochhalten, nicht herbei gebombt werden können. Weder in Afghanistan noch im Irak ist die Rechnung aufgegangen, und ebenso wenig im jüngsten Fallbeispiel Libyen.

Was also bewirkt der Verzicht auf eine Intervention für Syrien? Die erneute Drehung der Eskalationsspirale unterbleibt, mehr nicht. Aber das Töten geht weiter, blindwütig und mit ungehemmter Brutalität. Ob durch Raketenbeschuss umgekommen, auf Geheiß eines dubiosen Scharia-Tribunals hingerichtet oder von einer Autobombe zerfetzt – gestorben wird für Ziele, die an die ursprünglichen Konfliktgründe kaum noch erinnern.

Das Wunder scheint denkbar
Damit einher geht die Verwüstung des Landes. Immer mehr Menschen stehen vor der Wahl, entweder in Städten oder Stadtvierteln überleben zu müssen, die Trümmerwüsten gleichen, oder sich einem der Flüchtlingstrecks anzuschließen. Setzt sich die Fluchtwelle im gegenwärtigen Umfang fort, aus Syrien würde ein Torso mit einer zur Hälfte entwurzelten Bevölkerung.

Krieg steigert die Entrechtung und Erniedrigung seiner Opfer aufs äußerste. Deshalb gilt heute in zivilisierten Gesellschaften das Friedensgebot als moralischer Imperativ. Im Fall Syriens hat die internationale Staatengemeinschaft ihre Pflicht zur friedensfördernden Einflussnahme skandalös missachtet.

Die Großmächte fernab des Brandherds ebenso wie die Anrainer vor Ort: sie alle ergreifen aus unterschiedlichen, aber stets egoistischen Motiven für das eine oder das andere der verfeindeten Lager Partei. Ihre Unterstützung – politisch, militärisch, finanziell – schürt den Fanatismus der Kontrahenten. Sie trägt dazu bei, das Blutvergießen zu verlängern.

Das Gegenmodell, den Konflikt durch Interessenausgleich und Kompromiss zu beenden, verbindet sich mit dem Namen des früheren UNO-Generalsekretärs Kofi Annans. Seine Vermittlungsmission von 2012 scheiterte am mangelnden Einigungswillen der syrischen Bürgerkriegsparteien, aber mehr noch am Desinteresse der westlichen und der meisten arabischen Regierungen.

Das könnte sich jetzt ändern. Seit Anfang Mai plädiert Amerikas Außenminister John Kerry für eine Verhandlungslösung ohne Sieger und Besiegte. Das Wunder scheint denkbar: Alle fünf ständigen Mitglieder im UNO-Sicherheitsrat, auch Washington, auch Moskau, ziehen am selben Strang.

Skeptiker halten dagegen, dass alle Details der angekündigten Syrienkonferenz noch strittig sind, vom Teilnehmerkreis bis zur Tagesordnung. Wird es wieder beim Lippenbekenntnis bleiben?

Dr. Reinhard Mutz, Jahrgang 1938, studierte nach dreijährigem Militärdienst Politikwissenschaft und Neueren Geschichte. Er arbeitete bis 1984 am Institut für internationale Politik und Regionalstudien der Freien Universität Berlin und bis 2006 am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, zuletzt als Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor. Von 1992 bis 2008 war er Mitherausgeber des Jahresgutachtens der friedenswissenschaftlichen Forschungsinstitute in der Bundesrepublik.
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