Svenja Goltermann: "Opfer"

Wie sich der Opferbegriff entwickelte

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Heute hat der Opferbegriff Konjunktur, vor 200 Jahren war das noch anders. © Foto: imago, Cover: Verlag S. Fischer
Von Tabea Grzeszyk · 10.01.2018
Wer gilt wann und warum als Opfer? Dass diese Frage keineswegs trivial ist, macht Svenja Goltermanns lesenswertes Buch deutlich: Es beschreibt und analysiert die politischen Deutungskämpfe hinter einem vermeintlich universellen Opferbegriff.
Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Opfer sexualisierter Gewalt, Opfer von Naturkatastrophen: Spätestens seit dem 20. Jahrhundert hat der Opferbegriff Konjunktur. Anerkannte "Opfer" können auf gesellschaftliche Anteilnahme und Solidarität hoffen, in der Regel steht ihnen eine materielle Unterstützung zu.
Opfer-Sein kann eine machtvolle Position sein, das macht die Historikerin Svenja Goltermann gleich zu Beginn ihrer Studie "Opfer - Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne" klar. Doch es wäre ein Irrtum, diese Entwicklung als humanitäre Fortschrittsgeschichte zu schreiben: Wer wann und in welchem Maße als "Opfer" anerkannt wird, beschreibt die Historikerin als Ergebnis politischer Auseinandersetzungen und Machtkonstellationen.

Seit dem Ersten Weltkrieg werden Opfer anders betrachtet

Dabei beginnt die Studie mit einem Paukenschlag: Die Figur des schuldlosen Opfers sei ein junges Phänomen der letzten 200 Jahre. Über Jahrhunderte wurden in Kriegszeiten gefallene Soldaten einfach zurückgelassen oder in Massengräbern verscharrt, die Folgen für die Zivilbevölkerung blieben bis ins 19. Jahrhundert unsichtbar. Das Konzept der "Bevölkerung" und das dafür nötige juristische und medizinische Wissen musste erst entwickelt werden, um die Leidtragenden als entschädigungswürdige Opfer zu verstehen.
Eine Zeitenwende läutet der Erste Weltkrieg ein: Millionen toter Soldaten und Kriegsversehrte sowie Abermillionen Hinterbliebene führten zum Aufbau eines umfangreichen bürokratischen Apparats, um die Kriegsfolgen zu erfassen und zu dokumentieren. Dabei kam es zu einer massiven Ausdifferenzierung des Opferbegriffs, da die Sozialleistungen nach dem Grad der Schädigung unterschiedlich bemessen wurden.
Dem damaligen Wissen entsprechend konnten jedoch nur körperlich Versehrte und deren Hinterbliebenen auf staatliche Unterstützung hoffen. Für psychische Probleme (man denke an die "Kriegszitterer") stand nur die "Neurose" zur Verfügung, die Betroffene in die Nähe des Simulantentums rückte. Erstaunlicherweise dauerte es bis ins Jahr 1980, bis ein neues Konzept der "Posttraumatischen Belastungsstörung" schwerwiegende Ereignisse als Auslöser für psychische Erkrankungen anerkannte. Für Kritiker war damit jedoch die Büchse der Pandora geöffnet - nun konnte "jeder" zum Opfer werden.

Werden wir von "Opfern des Kapitalismus" sprechen?

In vier Kapiteln arbeitet Svenja Goltermann die historischen Vorbedingungen des Opfer-Seins heraus und verweist immer wieder auf den (post-)kolonialen Kontext, der einer allzu humanitären Lesart nicht Stand hält. Bis heute wird längst nicht allen Leidtragenden von Gewalt ein Opferstatus anerkannt.
Svenja Goltermann bringt die politischen Deutungskämpfe hinter vermeintlich universell gültigen Begriffen zum Vorschein. Werden wir in naher Zukunft jene Manager, die sich nach der Finanzkrise ab 2007 aus den Fenstern ihrer Bürohochtürme stürzten oder die 99 Prozent, die gegen prekäre Arbeitsbedingungen auf die Straße gehen, einmal als "Opfer des Kapitalismus" bezeichnen, denen staatliche Entschädigung zusteht? Solche Fragen werden nach der Lektüre zumindest denkbar. Ein eminent politisches, lesenswertes Buch!

Svenja Goltermann: "Opfer - Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne"
Verlag S. Fischer, Frankfurt/Main 2017
224 Seiten, 23 Euro

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