"Stuttgart 21" – Ja zum Bürgerengagement, Nein zum Volksentscheid!

Von Katja Wilke · 25.10.2010
Dermaßen in Wallung war der deutsche Souverän schon lange nicht mehr: Das Projekt "Stuttgart 21" versetzt Zehntausende Bürger in Ausnahmestimmung.
Die Demonstrierenden auf dem Stuttgarter Bahnhofsgelände sind von den unterschiedlichsten Beweggründen angetrieben: dem Unwillen, Baulärm zu ertragen; dem Ärger über die Selbstgerechtigkeit und Arroganz von Politikern und Unternehmen - und dem massiven Zweifel an der repräsentativen Demokratie.

Deutlich klaffen hier Rechtsgefühl und Rechtslage auseinander. Die breite Einführung von Volksentscheiden soll es nach Meinung vieler Projektgegner nun richten. Plebiszite sollen das Gleichgewicht zwischen Bürgern und Politik wiederherstellen, das in den Augen vieler aus den Fugen geraten ist. Schließlich hat sich in den vergangenen Monaten gezeigt, dass dieses Instrument Regierungen in ihre Schranken weisen kann: In Hamburg wurde die Bildungspolitik des schwarz-grünen Senats korrigiert, in Bayern der Nichtraucherschutz verschärft.

Keine Frage: Die Idee, Volksentscheide auf kommunaler oder auf Länderebene auszuweiten, ist charmant. Endlich hätte der einzelne Bürger direkten Einfluss auf das politische Geschehen, ohne auf die nächsten Wahlen warten zu müssen.

Die Idee ist charmant – aber sie ist brandgefährlich.

Zwar stimmt es, dass es zu wenig plebiszitäre Elemente in der deutschen Politik gibt. Für grundlegende Fragen, wie zum Beispiel die Einführung des Euro oder in jüngerer Zeit die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon, muss es endlich auch in Deutschland Volksentscheide geben - wie in zahlreichen anderen europäischen Ländern auch.

In allen anderen Bereichen aber kann sich Deutschland die punktuelle Mitbestimmung des Bürgers nicht leisten. Denn logisch weitergedacht, läuft die verstärkte Beteiligung auf eine deutliche Dominanz der älteren Generation hinaus.

Die deutsche Gesellschaft ist eine alternde Gesellschaft. Im Jahr 2050 wird es doppelt so viele 60-Jährige wie Neugeborene geben. Immer weniger Menschen haben Kinder und damit auch Enkel – das Mitdenken für nachfolgende Generationen können sie sich damit sparen. Was also passiert, wenn mehrheitlich Menschen über ein Vorhaben abstimmen, das ihnen zu Lebzeiten nur noch Ärger beschert – wie etwa Baulärm und Verkehrsbehinderungen? Über ein Vorhaben, von dem sie selbst keinen Vorteil mehr haben?

Kosten und Nutzen sind bei Großprojekten naturgemäß ungleich über die Generationen verteilt. Sie müssen vorfinanziert werden - von der Generation, die abstimmt. Die kommende Generation kann nicht mit abstimmen, sie ist systematisch unterrepräsentiert. Sie muss vielleicht den Baulärm nicht ertragen oder andere Unannehmlichkeiten, die große Infrastrukturvorhaben regelmäßig mit sich bringen. Auch muss sie zur Finanzierung heute keine Steuern zahlen. Nur werden neue Flughäfen oder Autobahnen ohnehin nicht aus laufenden Einnahmen bezahlt - sondern über staatliche Kreditaufnahme, letztlich also durch Steuern der Zukunft - und die zahlen unsere Kinder und Kinderskinder sehr wohl.

Es ist vorhersehbar, dass die demografische Entwicklung in Verbindung mit dem Plebiszit dazu führen würde, dass sich eine Anti-Haltung gegen neue Vorhaben ausbreitet. Kaum ein größeres Infrastrukturprojekt hätte noch eine Chance auf Realisierung. Und das in einer Welt, die getrieben ist vom Tempo asiatischer Wachstumsmotoren wie China oder Indien.

Nein, diese Entscheidungen müssen dem Bürgerwillen entzogen sein. Wir brauchen repräsentative Volksvertreter, die die verschiedenen Interessen berücksichtigen und abwägen.

Wie aber können künftig Desaster bei Großprojekten wie aktuell in Stuttgart vermieden werden? Vertrauensbildend wäre es zunächst, die Beteiligung von Betroffenen an den unübersichtlichen Planungsverfahren auszuweiten – und zwar so, dass sie sich ernst genommen fühlen und das Prozedere nicht nur wie eine Alibiveranstaltung wirkt.

Vor allem aber liegt der Schlüssel nicht im Bürgerbegehren, sondern im bürgerlichen Engagement. Die repräsentative Demokratie hat mitnichten ausgedient, anders als es viele Kritiker zurzeit suggerieren. Statt reflexartig nach dem Volksentscheid als Blockademittel zu rufen, müssten mehr Menschen bereit sein, sich zu engagieren, sich frühzeitig einmischen und aktiv gestalten zu wollen.

Einfach nur gegen etwas zu sein, ist hingegen eher der Ausdruck einer Konsumentenhaltung: Wenn der Service der Politik nicht mehr stimmt, geht es auf die Straße. Anstelle von solchen defensiven Ansätzen bräuchte Deutschland mehr konstruktive Mitarbeit des Volkes – und nicht den Volksentscheid.

Katja Wilke, Wirtschaftsjournalistin und Rechtsanwältin in Berlin. Sie schreibt für Tages- und Wochenzeitungen sowie Magazine über Rechtspolitik und Wirtschaftsrecht. Sie arbeitete zuvor als Redakteurin für die "Financial Times Deutschland". Das Volontariat absolvierte sie an der Georg-von-Holtzbrinck-Schule für Wirtschaftsjournalisten in Düsseldorf.
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