Streit über Coronamaßnahmen

Freiheit und Schutz nicht gegeneinander ausspielen

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Auf dem Körper eines unbekleideten Mannes wird ein Stoppschild projiziert.
"Jenes nackte Leben, das unter den Bedingungen des Lockdowns einzig noch möglich sei – ein Leben ohne Freunde, Kultur und Gemeinschaft –, das sei kein menschenwürdiges Leben mehr," sagt Giorgio Agamben. © Eyeem/ Ihar Paulau
Von David Lauer · 26.04.2020
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Es mehren sich die Stimmen, die die Coronamaßnahmen für unverhältnismäßig halten. Darunter auch Philosophen und Staatsrechtler, die den Schutz der Würde in Gefahr sehen. Der Philosoph David Lauer hält das für eine verkehrte Perspektive.
Angela Merkels Wort von den "Öffnungsdiskussionsorgien" hat in der letzten Woche die Schlagzeilen bestimmt. Kaum Beachtung fand hingegen eine andere sprachliche Neuschöpfung: "Krankheitsvermeidungsabsolutismus". Der Rechtsphilosoph Uwe Volkmann führte sie ein, um seine These zu erläutern, man könne dauerhafte und massive Grundrechtseinschränkungen nicht mit dem Hinweis rechtfertigen, dass dadurch Leben erhalten werde. Nicht das Recht auf Leben sei das höchste Gut unserer Verfassung, sondern die Menschenwürde. Im Namen der Würde sei unter Umständen gegen das Leben zu entscheiden.

Agamben: Corona-Maßnahmen vereiteln lebenswertes Leben

Ähnlich äußerte sich in den vergangenen Wochen auch der italienische Philosoph Giorgio Agamben. Die europäische Coronapolitik sei allein daran orientiert, den Tod zu vermeiden. Sie kenne kein Ziel, als das physische Überleben möglichst vieler zu sichern. Tatsächlich jedoch vernichteten die zu diesem Zweck ergriffenen Maßnahmen das menschliche Leben in einem höheren Sinne – nämlich im Sinne eines selbstbestimmten, lebenswerten Lebens, wie es freien Individuen einzig angemessen sei. Jenes nackte Leben, das unter den Bedingungen des Lockdowns einzig noch möglich sei – ein Leben ohne Freunde, Kultur und Gemeinschaft –, das sei kein menschenwürdiges Leben mehr.
Agambens Einlassungen wirkten selbst auf viele seiner Bewunderer schrill. Noch hat sich Europa nicht in einen epidemiologischen Gulag verwandelt. Das spricht jedoch zunächst nicht gegen das Prinzip, auf das Agambens Argument sich stützt. Wir kennen es aus der Diskussion um das Recht auf einen selbstbestimmten Tod. Dort wird gegen etwas argumentiert, das man "Todesvermeidungsabsolutismus" nennen könnte.

Nacktes versus selbstbestimmtes Leben?

Es kann der Medizin nicht pauschal darum gehen, das nackte menschliche Leben um jeden Preis zu erhalten. Das Ziel kann nur sein, das als lebenswert bejahte menschliche Leben zu erhalten. Und wurde nicht auch nach jedem Terroranschlag argumentiert, wir dürften unsere freiheitliche Lebensweise nicht für einen "Terrorvermeidungsabsolutismus" aufgeben, selbst wenn das bedeute, dass es weitere Opfer geben werde? Warum also nicht auch argumentieren, dass es besser sei, ein paar an Covid-19 Erstickte in Kauf zu nehmen, als im Namen des nackten Lebens das lebenswerte Leben selbst im Lockdown zu ersticken?
David Lauer steht für ein Porträt-Bild vor einem grauen Hintergrund.
Der Philosoph David Lauer© © Fotostudio Neukölln / Gunnar Bernskötter
Weil – um es kurz zu sagen – die Logik der Epidemie einen Unterschied ums Ganze macht. Der Todkranke, der sich dafür entscheidet, wenige, erfüllte letzte Wochen einem monatelangen verlängerten Siechtum an Schläuchen und Apparaten vorzuziehen, reißt niemanden mit sich in den Tod. Und wer sich trotz Anschlagswarnung ins metropolitane Nachtleben stürzt, setzt nur sein eigenes Leben aufs Spiel. Das Virus aber kann uns selbst unbemerkt zu einer potentiell tödlichen Bedrohung für andere werden lassen.

Auch die fahrlässige Gefährdung anderer verletzt die Würde

Es ist ein immer wieder neu aufbrechendes Missverständnis, dass in dieser Krise jeder sich selbst vor den anderen schütze, so dass es ihm freistehe, auf diesen Schutz auch zu verzichten. In Wahrheit schützt jeder die anderen vor sich selbst und wird umgekehrt von ihnen geschützt.
Agamben betrauert zu Recht den erschütternden Verlust menschlicher Würde, der sich auf den Krankenhausfluren der Lombardei abspielte, wo röchelnde Menschen trostlos verendeten und ihre Leichen verbrannt wurden. Die daraus abzuleitende Einsicht ist jedoch, dass es mit unserer Würde unvereinbar wäre, wenn wir es zulassen oder ungewollt dazu beitragen würden, dass dergleichen sich wiederholt.
Solange dies mangels massenhaft verfügbarer verlässlicher Schnelltests nur durch anhaltende Kontakteinschränkungen zu verhindern ist, ist es falsch, die Freiheit und Würde des Einzelnen und die Solidarität mit den Bedrohten gegeneinander auszuspielen.

David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes- und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

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