Strafvollzugsexperte: Man kann sich nur in Freiheit bewähren

Michael Alex im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 12.08.2010
In einer Studie hat der Kriminologe Michael Alex gezeigt, dass nur ein Bruchteil von entlassenen Häftlingen, denen Gutachter eine hohe Gefährlichkeit bescheinigt hatten, auch wirklich rückfällig wurde.
Klaus Pokatzky: Wenn ein Verbrecher zusätzlich zu seiner Haft noch zu einer nachträglichen Sicherungsverwahrung verurteilt wird, dann gilt das als rechtsstaatlich fragwürdig. Aber ist so etwas auch überhaupt sinnvoll, um die Allgemeinheit vor Rückfalltaten zu schützen? Die Kriminologen Thomas Feltes und Michael Alex haben nun eine Rückfallstudie erstellt, und zwar von Straftätern, denen Gutachter eine hohe Gefährlichkeit bescheinigt hatten. Die Gerichte hatte eine Sicherungsverwahrung jedoch abgelehnt, und so kamen sie frei. Nur ein Bruchteil von ihnen wurde wieder wegen Gewalt oder Sexualdelikten auffällig.

Der größte Teil der Prognosen der psychologischen Gutachter, oder psychiatrischen, war also falsch. Am Telefon begrüße ich nun einen der beiden Autoren der Studie, Michael Alex – guten Tag, Herr Alex!

Michael Alex: Guten Tag!

Pokatzky: Sie waren früher selber im Strafvollzug, Sie haben in einer sozialtherapeutischen Anstalt gearbeitet, haben also auch praktische Erfahrungen, nun haben Sie mit dieser Untersuchung Ihren Doktorgrad erworben. Haben Sie die Ergebnisse überrascht?

Alex: Eigentlich hatte ich mit diesen Ergebnissen fast gerechnet. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist ja 2004 eingeführt worden, und das A und O war: Gibt es während des Strafvollzugs neue Erkenntnisse, die für die Gefährlichkeit des Täters sprechen? Und da war ich immer schon sehr skeptisch, ob nun ausgerechnet im Strafvollzug solche Erkenntnisse gewonnen werden können.

Und die Rechtsprechung hat dann ja dazu geführt, dass der Gradmesser für diese neuen Erkenntnisse sehr hoch gesetzt worden ist, und dadurch sind etwa – also zwischen 2004 und 2006 – etwa 115 Leute entlassen worden, und dadurch hatten wir die Gelegenheit, 77 von ihnen zu begleiten, ob die wieder rückfällig geworden sind.

Pokatzky: Und nur vier davon, also umgerechnet jetzt fünf Prozent ungefähr von denen, sind dann wieder wegen Raub oder Sexualdelikten verurteilt worden.

Alex: Ja.

Pokatzky: Das sind ja aber jetzt Leute, wo quasi schon ein Gericht als eine Instanz dazwischengeschaltet war und gesagt hat, ja, wir halten die auch nicht für so gefährlich. Was sagt Ihre Untersuchung jetzt aus über die, wo die Gerichte dann tatsächlich eine Sicherungsverwahrung angeordnet haben, die also noch sitzen, die haben Sie ja nicht untersuchen können?

Alex: Das ist immer das Problem. Im Normalfall kann man ja nicht überprüfen, ob jemand, der im Knast bleibt, gefährlich ist oder nicht gefährlich ist. Insofern hatten wir durch diese sehr restriktive Rechtsprechung – für Deutschland ziemlich einmalig – die Gelegenheit, bei den Leuten, die auch für gefährlich gehalten worden sind, zu überprüfen, ob die tatsächlich auch gefährlich gewesen oder ob sich diese Gefährlichkeit manifestiert hat in neuen Straftaten. Das ist das Entscheidende.

Ich schließe nicht aus, dass die Leute, die die Rechtsprechung drin gelassen hat, das sind also etwa 20 Fälle seit Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung, dass die auch gefährlich sind, weil das auch andere Untersuchungen gezeigt haben. Man findet schon die Gefährlichen raus, aber immer nur auf Kosten einer viel größeren Zahl von nicht Gefährlichen, die nur vermeintlich gefährlich waren.

Pokatzky: Also über die, die noch einsitzen, sagt Ihre Studie nur bedingt etwas aus?

Alex: Ja, weil sich jemand nur bewähren kann in Freiheit.

Pokatzky: Was sagt Ihre Studie über die Fähigkeit der Gutachter aus?

Alex: Die Qualität der Gutachten hat sich in den letzten Jahren sehr, sehr verbessert. Es gibt inzwischen Gefährlichkeitslisten oder Listen, wo Faktoren aufgelistet sind, die für eine Gefährlichkeit sprechen. Dennoch bleibt das Problem, dass menschliches Verhalten nur sehr, sehr begrenzt vorhersehbar ist.

Und das insbesondere, wenn man jetzt also nur das Verhalten in der Haft betrachten darf, weil das vom Gesetz her so vorgesehen ist, dass es dann noch riskanter wird, Gutachten zu machen, denn sie müssen im Grunde irgendwelche Bagatellgeschichten, was weiß ich, Ärger mit Bediensteten, Beleidigung von Bediensteten heranziehen, um die Gefährlichkeit für eine gefährliche Straftat später zu prognostizieren, und das ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Pokatzky: Ja, aber, Herr Alex, 73 der Gutachter von Ihren 77 Fällen haben ja nun völlig falsch gelegen, also das spricht ja nicht unbedingt jetzt für die Qualität der Gutachter.

Alex: Nein, also die Qualität ist natürlich sehr unterschiedlich, auch von den Gutachtern, aber es gibt inzwischen – die Gutachtentechnik hat sich verbessert –, es gibt inzwischen Standards für Gutachten. Es zeigt sich nur an der Stelle, dass immer Grenzen da sind und dass Gutachter sehr häufig daneben liegen. Die Ursachen sind vielfältig, ich denke, wir sehen das hier auch bei der Rechtsprechung der letzten Monate.

Natürlich tun sich die Gerichte schwer, Leute, die vermeintlich gefährlich sind, zu entlassen, und natürlich möchte auch kein Gutachter eine günstige Prognose über jemanden abgeben, der nachher rückfällig wird, das ist ja sozusagen der Gau für einen Gutachter. Insofern ist die Tendenz, lieber einen mehr drin zu lassen als einen rauszulassen, sehr groß bei den Gutachtern, und das merkt man auch an den Gutachten.

Pokatzky: Ich spreche mit dem Strafvollzugsexperten Michael Alex, Autor einer Studie zur nachträglichen Sicherheitsverwahrung. Herr Alex, wer ernennt die Gutachter vor Gericht?

Alex: Die Gutachter werden in der Regel vom Gericht selbst ernannt.

Pokatzky: Auf wessen Vorschlag?

Alex: Auf eigene Initiative der Gerichte, die Verteidiger können allerdings ihrerseits Vorschläge einbringen. In der Regel beauftragen die Gerichte aber die Gutachter, die sie für kompetent halten, das heißt natürlich auch umgekehrt die Gutachter, die voraussichtlich den eigenen Erwartungen entsprechen.

Pokatzky: Gibt es da auch manchmal vielleicht bestimmte Kooperationen zwischen Staatsanwälten und Gutachtern, um nicht zu sagen eine Kumpanei, wo dann Gutachter vielleicht es sich auch nicht unbedingt verderben wollen dann mit denen, die ihnen da ja auch eine Einnahmequelle beschaffen?

Alex: Die Tendenz ist sehr groß. Also so ein Gutachten, so ein psychiatrisches Gutachten in so einem Prognosefall kostet um die 3000 Euro, das ist natürlich für einen Gutachter schon ein guter Nebenverdienst, und er wird sich nicht unbedingt mit dem Gericht oder mit der Staatsanwaltschaft, die ihn beauftragt, anlegen, weil er aus inhaltlichen Gründen widerspricht.

Es gibt ein paar renommierte Gutachter, die sich auch wehren, die auch entsprechend in der Öffentlichkeit wirken, aber es gibt eine große Vielzahl von Gutachtern, die eher die Tendenz haben, lieber das zu sagen, was das Gericht erwartet, und es ist immer leichter zu sagen, der ist gefährlich, als das Risiko einzugehen, der könnte ungefährlich sein.

Pokatzky: Sind denn überhaupt schon mal Gutachter zur Verantwortung gezogen worden?

Alex: Es sind Gutachter zur Verantwortung gezogen worden, weil sie zum Beispiel für Vollzugslockerungen eine positive Prognose gestellt haben und hinterher, während dieses Hafturlaubs der Gefangene einen Mord begangen hat. Da sind die Gutachter selbst wegen fahrlässiger Tötung angeklagt und verurteilt worden.

Pokatzky: Aber nicht, weil sie jetzt jemandem eine falsche Prognose gestellt haben und der deshalb noch Jahre in Haft sitzen musste oder um…

Alex: Nein, wegen des umgekehrten Falles, wegen des umgekehrten Falles, weil sie keine Gefahr gesehen haben, sind sie verurteilt worden, und das hat natürlich für andere Gutachter erhebliche Auswirkungen: Ehe ich mich dem Risiko aussetze, verurteilt zu werden wegen der Tat des Entlassenen oder Beurlaubten …

Pokatzky: Das heißt, Sie haben also auch ein gewisses Verständnis für diese 73, die zu Unrecht dann gesagt haben, der ist ganz gemeingefährlich?

Alex: Verständnis habe ich dafür nicht, also auf der menschlichen Ebene natürlich. Wir scheuen ja alle das, wer möchte freiwillig verurteilt werden? Dieses Verständnis habe ich schon. Nur wenn man seinen Beruf ernst nimmt – und das tun abstrakt alle Gutachter –, dann muss man sich auch der Grenzen der gutachterlichen Möglichkeiten bewusst sein und muss die auch in sein Gutachten reinschreiben, dass das alles nur unter Vorbehalt gilt.

Pokatzky: Es gibt von Ihnen schon eine Studie, die ist zwei Jahre alt, auch damals haben Sie schon festgestellt, dass viele Menschen zu Unrecht auf Dauer inhaftiert wurden. Gab es damals eigentlich eine öffentliche Reaktion darauf?

Alex: Es gab ein relativ übles Internetforum der "Westdeutschen Allgemeinen Zeitung", in der dann so Äußerungen kamen, also solche Wissenschaftler, die zu solchen Ergebnissen kommen, die sollte man bei der nächsten Tat gleich wegen Mittäterschaft anklagen oder die sollen mal neben so einen ziehen und da wohnen müssen – also das war schon, das ging schon an die Grenze dessen, was man so als faire Auseinandersetzung betrachten kann.

Pokatzky: Deshalb stelle ich Ihnen jetzt noch die faire Frage: Was sind denn Ihrer Meinung nach die richtigen Konsequenzen auf das Ergebnis Ihrer neuen Studie?

Alex: Also die Konsequenzen sind jetzt ja durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte noch mal bekräftigt worden. Alle nachträglichen Eingriffe in Urteile sind im Grunde menschenrechtswidrig, also muss man gucken nach den Alternativen.

Wir haben inzwischen die Führungsaufsicht erheblich ausgebaut, also man kann Entlassenen auch Therapieauflagen geben, man kann sie relativ dicht begleiten. In Hessen gibt es ein Modell, wo ein Bewährungshelfer nur noch zwölf solcher gefährlichen Entlassenen begleitet, während im üblichen Fall 90 Klienten bei einem Bewährungshelfer angesiedelt sind. Die Bewährungshelfer werden entsprechend geschult. Man kann bei diesem Klientel ja sehr deutlich Signale erkennen, die scheinbar unbedeutend sind, aber wenn jemand eben Kontakte aufnimmt, dann ist das so ein erster Schritt, oder wenn jemand irgendwelche Vorbereitungshandlungen trifft – das kann man machen.

Dann ist, glaube ich, der ganz wesentliche Teil – bisher sind die Sicherheitsverwahrten bei uns ja immer so am Rande behandelt worden im Strafvollzug, weil man sich da sagen konnte, die kommen eh nie raus –, dass man also Resozialisierung ganz, ganz ernst nimmt, dass man eben wirklich auch Resozialisierungsgesetze, wie sie jetzt also in Brandenburg vorbereitet werden, einführt. Und da gibt es ein großes Spektrum unterhalb der Wegsperrensebene.

Pokatzky: Danke, Michael Alex, Strafvollzugsexperte und Autor einer Studie zur nachträglichen Sicherheitsverwahrung, mit ihr wurde er an der Ruhr-Universität Bochum zum Doktor jur. promoviert. Herzlichen Glückwunsch noch nachträglich, Herr Alex!
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