Soziale Ungleichheit

Hungernd in London

Ein obdachloser Mann in London
Gucci? Von wegen. Immer mehr Menschen leben in Großbritannien unter der Armutsgrenze. © CARL DE SOUZA / AFP
Von Jochen Spengler · 09.12.2014
Der britische Finanzminister George Osborne brüstet sich mit der niedrigen Inflation und der gesunkenen Arbeitslosenquote. Doch der Aufschwung hat Schattenseiten, das belegt der Ansturm auf die "food banks", die kostenlose Lebensmittel bieten.
Lebensstandard und Realeinkommen sinken seit Jahren; etwa 13 Million Menschen in Großbritannien leben unter der Armutsgrenze, waren früher vor allem Alte und Arbeitslose betroffen, so hat sich dieses Bild der Armut einer neuen Studie zufolge dramatisch gewandelt.
Peter Kenway ist der Autor der Studie :
"Zunächst herrscht Armut heute vor allem bei jungen Leuten, Kinder eingeschlossen, jedes vierte Kind ist arm, aber auch bei jungen Erwachsenen . Zweitens: sie geht einher mit unzureichendem Arbeitseinkommen und drittens findet man Armut vor allem bei Mietern."
Regierung kürzt das Wohngeld
Wer nicht das Glück hatte, vor geraumer Zeit auf die sogenannte Eigentumsleiter zu springen und eine eigene Immobilie zu erwerben, ist arm dran. Denn mit den Hauspreisen, die sich in zwei Jahrzehnten im ganzen Land mehr als verdreifacht, in London sogar versechsfacht haben, sind auch die Mieten explodiert. Verschärft wird die Situation weil die konservativ-liberale Regierung seit 2010 das Wohngeld kürzt und zugleich an allen anderen Sozialleistungen spart; auch, um Leute in Arbeit zu zwingen; doch zwei Drittel derer, die arbeitslos waren, verdienen in ihrem neuen Job weniger als zum Leben reicht:
"Die Menschen stehen unter einem enormen Druck, den ersten Job, der erhältlich ist, anzunehmen. Es gibt viele Arbeitsplätze mit Null-Stunden-Verträgen, die wie bei den viktorianischen Tagelöhnern weder feste Stunden noch feste Bezahlung garantieren. Ein Teufelskreis, in dem die Menschen sehr wenige Rechte und kaum eine Wahl haben.
Besser überhaupt einen, als gar keinen Job – das sei nur dann ein gutes Argument, sagt Peter Kenway, wenn damit kein Dauerzustand, sondern der Beginn einer positiven Entwicklung erreicht werde; leider aber erhielten vier von fünf Briten auch noch nach Jahren nur einen Billiglohn."
Eine Mitarbeiterin im Lager der food bank in London
Eine Mitarbeiterin im Lager der food bank in London© AFP PHOTO / WILL OLIVER
Kein Wunder, dass die in Großbritannien food banks genannten Tafeln, enormen Zulauf erfahren. Die BBC berichtete jetzt vom 19-jährigen Paul und seiner Zwillingsschwester Rosie aus Salesbury, die auf die kostenlosen Lebensmittel angewiesen sind, seit ihr Vater seinen Arbeitsplatz verloren hat:
"Wir hatten seit zweieinhalb Wochen nichts zu essen. Weil wir kein Geld zum Einkaufen hatten."
"Ich kann leben, ohne zu essen, eine Diät von einer Woche vielleicht."
"Ich muss essen, weil ich sonst zusammenklappe, das ist schon mal passiert. Glücklicherweise hat mir einer geholfen und mir etwas zu essen gekauft."
Die Anglikanische Kirche und eine Partei übergreifende Gruppe von Parlamentsabgeordneten schlagen nun in einem Bericht Alarm:
"Es ist ein Skandal"
"Es ist schockierend zu sehen, dass nach unserer Schätzung vier Millionen Briten food banks und ähnliche Hilfsangebote nutzen. Es ist ein Skandal, dass es solch einen Hunger in unserem Land im 21. Jahrhundert gibt."
sagt Tim Thornton, Bischof von Truro und Leiter der Gruppe. Er weist das Argument einiger, dass die Existenz der Tafeln überhaupt erst die Nachfrage nach Umsonst-Lebensmitteln erzeuge, entschieden zurück:
"Die Wirklichkeit zeigt klar, dass es eine sehr demütigende, peinliche Erfahrung ist, zu einer Tafel zu gehen. Bei uns in Cornwall hat eine Dame, die in Not geriet, einem Reporter gesagt, dass sie dreimal am Eingang vorbei gelaufen sei, ehe sie sich hereingetraut habe."
Bischof Thornton und die Parlamentarier fordern höhere Löhne, mehr food banks und die Gründung einer Dachorganisation namens feeding Britain, in der Regierung, Supermärkte und Wohlfahrtsorganisationen zusammenarbeiten sollen.
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