So alt wie die deutsche Einheit

Von Antje Krüger und Dagmar Schnürer · 21.09.2005
Sie wurden im Jahr der Einheit geboren. Das geteilte Deutschland ihrer Eltern haben sie nicht mehr erlebt. Sie gehen ins Kant-Gymnasium in Berlin Spandau und in die Kant-Oberschule in Berlin Lichtenberg. Zwei Schulen in einer Stadt, in ehemals getrennten Bezirken. Doch Ost und West prägt die 15-Jährigen noch immer. Oder schon wieder.
Schüler aus Spandau
Johannes: "Das sollte man nicht so unterscheiden, die kommt aus dem Osten, die aus dem Westen, weil beides seit 15 Jahren einfach keine Rolle mehr spielt und man das ... "
Pauline: "... mal vergessen sollte. "
Maike: "Dafür ist ja die Einigung, damit das nicht mehr ist. "
Johannes: "Von dem Thema sollte man runterkommen. "

Kann man das?

Die einen gehen auf die Immanuel-Kant-Oberschule in Berlin Lichtenberg. Ein Bezirk inmitten von Ostberlin.

Die anderen besuchen das Kant-Gymnasium in Berlin Spandau im äußersten Nordwesten der Stadt.

Nur eine Stunde Fahrt mit der S-Bahn trennt die Lehrgebäude. Aber dazwischen liegen Welten.

Es ist halb zwölf, Hofpause. Angelo und Johannes aus der Klasse 9 c sitzen vor dem flachen Gebäude des Kant-Gymnasiums in Spandau. Katarina, Pauline, Anja und Maike kommen mit ihren Fahrrädern angeschlendert.

Johannes: "Maike, lach mal. Mach mal ein blödes Gesicht. "

Die 15-Jährigen haben sich für ein Interview bereit erklärt. Kichernd.

Anja: "Wird rausjeschnitten. "

Sie wissen nicht so richtig, was sie überhaupt erzählen sollen. Die einstige Trennung Deutschlands ist nicht ihr Ding. Das war einmal. Das ist doch egal.

Ob sie Wessis sind? Ja, rein geographisch. Aber sonst ...

Mitschüler aus dem Osten der Stadt oder dem Land Brandenburg fallen nicht auf.

Johannes: "Nö. Die haben sich eigentlich gut angepasst. "

Anja: "Wird rausjeschnitten. "

Maike: "Für uns Jugendliche ist das nicht so wichtig, ob wir jetzt im Osten gewohnt haben oder im Westen, weil wir noch sehr klein waren, aber für die Erwachsenen, glaube ich, schon. (...) in ihren Erinnerungen kommen aus dem Osten oder Westen. "

Allgemeine Zustimmung. Der ehemalige Grenzverlauf ist nur noch diffus bekannt. Wo war sie denn, die Mauer?

Johannes: "Also ich würd so ... "

Katarina: "Prenzlauer Berg. "

Johannes: "Hinter der Mitte. "

Maike: "Ja, genau, würd ich auch sagen. (...)"

Johannes: "Ich glaub, der Alex ist im Osten. Ist der Alex im Osten? "

Katarina: "Ja, sicher. "

Angelo: "Der Alex ist im Westen. "

Johannes: "Der Alex ist im Osten. Aber trotzdem. "

Katarina: "Ist die Verbindung mit dem Westen ... "

Johannes: "Also, man fährt mal zum Zoo, zum Alex ... "

Und schon sind sie mitten drin in der Ost-West-Diskussion, die, wie sie sagten, ja eigentlich keine Rolle mehr spielt. Das Mikrofon ist vergessen. Vergessen, dass sie glaubten, nichts zu sagen zu haben. Ihr Bild ist klar. Das von sich selbst und das von den anderen.

Maike: "Ich denk immer, im Westen ist alles ordentlich, sagen wir mal so, geordnet, schöne Straßen, Wälder, Blumen, Wiesen. Und im Osten sind dann so Jugendgangs, eingeschlagene Fenster, beschmierte Häuser ... "

Anja: "Ich find auch alles, auch die Farben sind da oft komisch. So immer graue Häuser. "

Maike: "Genau, Trübsal. Wie als wenn ... "

Anja: "Auch keine Blumen so ... "

Maike: "Da sind Riesenhäuserblöcke und dann stehen da so zwei Leute davor. "

Katarina: "… weil da ist eigentlich gar nichts mehr. "

Johannes: "Nüscht. "

Drüben, in Lichtenberg, wo nüscht is, haben sich derweil Elisa, Julia und Sarina zum Basketballspielen getroffen. Der Platz unter den hohen Bäumen unweit ihrer Schule ist mit hellem Sand bestreut. Sie nennen ihn den weißen Platz. Weiter hinten schießen ein paar Jungs Fußballtore. Eine ruhige Wohngegend. Nebenan ein Altersheim, gegenüber Aldi und Kaisers.

Ost– und Westschüler wissen offenbar weniger voneinander, als sie glaubten. Vielleicht nehmen die das Schulleben nicht so ernst oder machen was anderes in ihrer Freizeit, wird spekuliert. Sie ahnen nicht, dass für sie alle Sport und Musik am wichtigsten ist.

In Spandau ist es Maike, die sich zur Gitarre begleitet. In Lichtenberg nimmt Elisa Gesangsunterricht. Und beide singen gerne Pop, auf Englisch.

Doch ansonsten bleiben sie sich fremd.

Johannes: "Ich fänd das ja wirklich mal interessant, was die ... "

alle gleichzeitig: "... über uns sagen. "

Johannes: "Wir sagen ja irgendwie, Osten ist irgendwie so ein bisschen zurückgeblieben. Was mich interessieren würde, was die zu uns sagen. "

Katarina: " Ja, das will ich auch wissen. "

... fragen sich die Spandauer.

Die Antwort aus Lichtenberg:

Florian: "Sind auch Schüler wie wir. "

Inga: "Außer, dass sich die Mehrzahl dann als Wessis bezeichnet, bestimmt. "

Florian: "Muss nicht sein. "

Inga: "Na, die kommen ja eher aus dem Westen. "

Elisa: "Wir sagen doch auch, wir sind Ossis. "

Moment mal. Spielte das keine Rolle mehr? Wie war das doch gleich politisch korrekt?

Florian: "Ich bin geboren, nachdem die Mauer gefallen war und da war die ganze Nummer eigentlich schon gelaufen und dann gab es nur ein Deutschland. Dass das jetzt irgendwie nach Himmelsrichtungen geteilt wird, Ost, West, das ist mir völlig suspekt. Irgendwer hat mal versucht, mich als Ossikind abzustempeln und da hab ich gesagt, nö, bin ich nicht. "

Besonders die Schüler im ehemaligen Osten werden damit konfrontiert, dass ihre Umwelt sie in die alten Kategorien zwängt. Es ist nicht nur die arbeitslose Mutter, die erzählt, dass ihr Leben vor der Wende viel besser war. Oder der Vater, der darüber aufklärt, dass alles für den Osten zu schnell ging.

Inga: "Man merkt ja auch heute noch viele Unterschiede, auch durch die Medien und Politiker. Die machen ja auch noch einen Unterschied. Wie hieß der? "

Alle: "Stoiber. "

Inga: "Genau. "

Florian: "Die dümmsten Kälber wählen ihren Metzger selber. "

Inga: "Wenn alle so wären wie die Wessis, wäre alles perfekt. "

Franziska: "Genau, dass die Ostdeutschen grimmig sind und nur die schlechten wählen und ... "

Julia: "Dass wir frustrierte Ossis sind. "

Florian: "Ich finde das nicht richtig, dass jetzt wieder solche Unterscheidungen gemacht werden und ja ... Am schlimmsten an der ganzen Debatte finde ich diese Vorurteile. Die da im Osten, die da im Westen. Wir leben jetzt alle in einem Land und auch wenn in den Regionen des Landes unterschiedliche Bedingungen herrschen, sollte man doch nicht gleich wieder eine große Masse Menschen abstempeln. Also, so was hatten wir schon mal 1945 und das war furchtbar."

... fasst Florian aus Lichtenberg zusammen. Die Schüler im Ostteil der Stadt fühlen sich von der Debatte, die Edmund Stoiber lostrat, persönlich angegriffen.

Dass die Worte aus Bayern auch von ihren Altersgenossen in Spandau abgelehnt werden, hätten sie nicht erwartet.

Johannes: "Ich meine, die Bayern haben das doch eigentlich gar nicht so, so hautnah miterlebt mit Osten und Westen, oder? "

Angelo: "Nee. "

Johannes: "Die können doch gar nicht sagen, die im Osten sind frustriert und die anderen nicht. "

Maike: "Ja, genau. "

Johannes: "Insofern ist das sowieso blöd. "

Maike: "Na ja, aber irgendwie sind die der Meinung da. "

Johannes: "Ja? "

Maike: "Mhm. "

Johannes: "Na ja, Arschlöcher. "

Skepsis, mangelndes Vertrauen in die existierende Parteienlandschaft und eine Prise Desinteresse bestimmen mit kleinen Ausnahmen die Haltung der 15-Jährigen zur Politik. Die Erwartungen an die neue Regierung sind, in Spandau wie in Lichtenberg, niedrig.

Angelo: "Mich interessiert Politik nicht. Kein bisschen. Also, was die da machen. Wenn keiner zur Wahl gehen würde, dann würden die ganz schön auf dem Trockenen sitzen. Jeder sagt, er würde es besser machen, aber im Endeffekt ... "

Johannes: "Die versprechen immer viel, dass alles besser wird, dass Arbeitslosigkeit sinkt und dass halt alles immer schön und toll und Deutschland wird ja aufblühen und im Grunde genommen können sie nicht mal ein Viertel von dem, was sie sagen, einhalten. "

... finden Angelo und Johannes aus Spandau.

Die Lichtenberger führen noch einen anderen Aspekt mit ein. Einen, den sie von ihren Eltern erfahren haben.

Elisa: "Ich weiß ja nicht, wie es damals war, aber jetzt ist das System doch auch nicht so überragend. Auch wenn ich mich politisch nicht so interessiere. Aber so toll klappt's doch auch nicht. Meine Mutter hat mir zwar gesagt, dass das immer noch aus früheren Zeiten herragt, aber so toll ist doch das jetzige System auch nicht. "

Florian: "Ja, aber das vorige hat ja anscheinend auch nicht funktioniert, sonst wäre es ja immer noch da. Also, es muss ja irgendwo einen Mittelweg geben, einen goldenen. Und den muss man erst mal finden. "

Das frühere System. Früher, das sind vage Ahnungen, aufgeschnappte Erzählungen, die Antwort auf die eine oder andere Frage an die Eltern und Großeltern. Fassbar ist das getrennte Deutschland für die Jugendlichen nicht mehr. Auch wenn gerade einmal 15 Jahre vergangen sind. Für sie ist es ihr ganzes Leben.

Die DDR erscheint als ein fremdes Land wie China oder Indien. Die Rede ist von "denen da", egal, wer spricht. Weder im ehemaligen Osten noch im ehemaligen Westen wird die DDR von den Schülern als ein wesentlicher Teil der deutschen Geschichte wahrgenommen.

Welches Wissen haben die Jugendlichen überhaupt? Eine Stichwortprobe. Sie sollen sagen, was ihnen zu bestimmten Begriffen spontan einfällt.

Zuerst die Lichtenberger, die, wie Ina meint, den Osten in die Wiege gelegt bekamen. Beginnen wir mit dem Stichwort Sozialismus.

"Geschichte, ja, Geschichte, DDR, gibt’s nicht mehr, weg. "

Und FDJ?

"Äh, weiß ich gar nicht, wat dit is. Deutsche Jugend irgendwas. Freie Deutsche Jugend. Ist das doch, oder? "

Nun nach Spandau in den Westteil der Stadt. Was fällt den Jugendlichen dort ein? Es geht los: Sozialismus.

Und die FDJ?

Maike: "Was ist denn das? "

Johannes: "Warte, warte, warte. FDJ ist irgendeine Partei. "

Maike: "Ja. "

Johannes: "Die Föderalismus-Partei. "

Maike: "Genau, genau, genau. Das steht in so 'em Buch. "

Maritta Neumann: "Was auffällig ist, zum Beispiel, wenn man Ostthemen, sprich, Ostbücher behandelt oder so was, Plenzdorf oder Paul und Paula mit ihnen guckt, dass manchmal das Befremden über die Art und Weise, wie die Leute im Osten gelebt haben, also sprich auch ihre Eltern, als sie jung waren, größer ist als über das Zeitalter des Barock. Also, der Osten ist für sie emotional weiter weg als andere Geschichtsepochen. Es irritiert sie und ich glaube, es irritiert sie deshalb auch eben weil es die Geschichte der Eltern ist. Für die jetzt ist das so ein unsicheres Terrain. Also, lieber über die alten Römer als über die DDR, so etwa hab ich manchmal das Gefühl. "

... beobachtet Maritta Neumann, Deutsch- und Englischlehrerin an der Ostberliner Immanuel-Kant-Oberschule.

Tief über ihre Arbeitszettel gebeugt, lesen die Schüler der 9c in Spandau Texte über die DDR. Seit zehn Minuten herrscht konzentrierte Stille. Blätter rascheln, gerunzelte Stirnen. Immer wieder kommen leise Fragen.

Barbara Flieger: "Jetzt schlage ich mal vor, es lesen alle zu Ende bis sie auch nichts verstehen und dann machen wir es mal zusammen. "

Auch Geschichtslehrerin Barbara Flieger am Kant-Gymnasium in Spandau weiß, dass sie die Teilung Deutschlands und seine Vereinigung genauso erklären muss wie die Weimarer Republik oder die beiden Weltkriege.

Es ist also nicht das tiefe Wissen über die geschichtlichen Zusammenhänge, das die Jugendlichen prägt. Es sind die subtilen Alltagserfahrungen.

Sarina: "Na, man sieht jetzt, wenn man rüber in den Westen fährt, dass da manche … die Leute viel besser gekleidet sind als hier im Osten. "

Elisa: "Würd ich jetzt eigentlich aber nicht sagen. "

Markus: "Gibt’s aber im Osten auch, oder? "

Inga: "Shoppen kann man da auch gut. "

Ina: "Ist zu teuer. "

Inga: "Sind genau die gleichen Läden, die es hier auch gibt. "

So wissen auch die Lichtenberger, was sie im Westen erwartet.

Gab es da nicht ein Symbol, klein und unscheinbar in rot und grün, das besser als alles andere die Gräben zeigt?

Richtig. Das Ampelmännchen.

Inga: "Ja, die sind unterschiedlich, der Osten und Westen. Im Westen ist das viel zackiger, ne? Sind die da nicht so... "

Franziska: "Nee, das Ampelmännchen im Westen steht doch ganz stramm ... "

Ina: "Ja, genau. "

Franziska: "... und das Ampelmännchen im Osten läuft doch, oder? "

Elisa: "Also, das Grüne läuft immer, oder? "

Inga: "Die Wessiampelmännchen sind dünner ... "

Ina: "Ja, genau. "

Inga: "... und die im Osten sind so schön ... "

"... knuddelig"

Katarina: "Das ist blöd, dass die jetzt bei uns diese komischen, diese hässlichen hinbauen. "

Johannes: "Ausm Osten. Du musst ausm Osten dazu sagen. "

Anja: "Alles nur Schnickschnack. "

Katarina: " (Nörgelnd) Aber die sehn Scheiße aus. "

Johannes: "Es ist doch egal. "

Katarina: "Nein, ist es nicht, weil wenn ich jeden Tag über eine Ampel gehe, ja? "

Johannes: "Ein Ampelmännchen ist ein Ampelmännchen. "

Genug gelacht. Vorurteile über Ost und West ziehen sich durch alle Gespräche. Sie sind nicht böse gemeint oder gar bösartig formuliert.

Oft ist es den Jugendlichen nicht einmal bewusst, in welche Kategorien sie die andere Seite mit ihren Worten stecken. In die ganze Debatte mischen sich auch nachdenkliche Töne. Die leise Frage nach dem Warum der unterschiedlichen Bilder, die – wir erinnern uns – ja eigentlich gar keine Rolle mehr spielen sollten.

Katarina: "Vielleicht ist das auch teilweise unsere Einbildung. Weil, das kann ja sein, dass wir wissen, ja, damals war das so und so und dass wir jetzt denken, ja, stimmt. "

... sagt Katarina aus Spandau. Die erste gesamtdeutsche Generation sieht ihre Unterschiedlichkeit. Aber sie wertet sie nicht. Sie akzeptiert sie, ohne ein Gefühl von Über– oder Unterlegenheit aufkommen zu lassen.

Gerade, weil eine deutsche Gleichheit von den Jugendlichen nicht erzwungen werden will, könnte vielleicht ein einiges Deutschland in seiner ganzen Vielschichtigkeit irgendwann einmal angenommen werden.

Maike: "Irgendwie gerät Deutschland immer wieder auseinander. Dass es Ost und West gibt und Ausländer und Deutsche und irgendwie sind wir gar kein einiges Deutschland. "