Sinnlich erfahrbare Antike

Andreas Scholl im Gespräch mit Dieter Kassel · 23.06.2009
Andreas Scholl, Direktor der Antikensammlung Berlin, ist vom neuen Akropolis-Museum begeistert. Das am Wochenende in Athen eröffnete Museum sei "das erste adäquate Ausstellungsgebäude für diesen großartigen Schatz an griechischer Skulptur. Die Objekte sind zum Teil hervorragend ausgestellt, in wunderbarem Licht zu sehen." Auch der Standort sei optimal gewählt.
Dieter Kassel: In Athen ist am abgelaufenen Wochenende endlich mit fünfjähriger Verspätung das neue Akropolis-Museum eröffnet worden. Ein Gebäude, mit dem, was das Gebäude angeht, die Griechen zufrieden sind. Die internationale Meinung ist unterschiedlich, aber eins muss man denn doch anmerken: Die Griechen sind noch nicht so ganz damit zufrieden, was im neuen Akropolis-Museum zu sehen ist, vor allen Dingen, wenn es darum geht, was dort echt ist und was nicht.

Denn eines der wichtigsten Ausstellungsstücke ist der sogenannte Parthenon-Fries, der ist im Prinzip komplett zu sehen im dritten Stock des neuen Museums, aber große Teile dessen, was da zu sehen ist, sind nicht echt. Sie befinden sich zum Teil, bekannt geworden unter dem Namen Elgin Marbles im British Museum in London. Nicht unwesentliche Teile sind dann auch noch über andere Museen in Europa verteilt. Und natürlich nimmt Griechenland gerade die Eröffnung des neuen Museums auch zum Anlass, wieder einmal zu fordern, diese Teile zurückzugeben.

Wir wollen mit jemandem, der das Museum gesehen hat - und wie ich erfahren habe, einmal sogar leer und später dann so, wie es jetzt aussieht -, darüber reden. Andreas Scholl, der Direktor der Antikensammlung Berlin ist gerade erst in der vergangenen Nacht aus Athen zurückgekommen und ist jetzt bei mir im Studio. Schönen guten Tag, Herr Scholl!

Andreas Scholl: Guten Tag!

Kassel: Das kann ich mir nun gar nicht richtig vorstellen, gerade bei diesem Museum: Wie hat das ausgesehen, als noch gar nichts drin war?

Scholl: Das Museum ist ausgesprochen großzügig dimensioniert, sehr hell, also ein ganz auf das Tageslicht konzipiertes Haus, und es ist - das kann man gleich vorweg sagen - überhaupt das erste adäquate Ausstellungsgebäude für diesen großartigen Schatz an griechischer Skulptur. Denn das Gros der Skulpturen, das dort ausgestellt ist - wenn man zunächst mal den Parthenon und seinen Bauschmuck beiseite lässt -, ist ja erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefunden worden und war bis vor gut einem Jahr in einem sehr klein dimensionierten, immer als unbefriedigend empfundenen Gebäude auf der Akropolis selbst, was natürlich ein Vorzug war, ausgestellt gewesen. Und zum ebenfalls ersten Mal hat man auch den Bauschmuck des Parthenon, den berühmten Cella-Fries, die beiden Giebelgruppen von der Ost- und Westseite und die 92 umlaufenden Metopen, sofern sie überhaupt erhalten sind, in einem sinnlich erfahrbaren Zusammenhang vor Augen.

Kassel: Das ist - ich muss es zugeben, ich kenn's nur von Filmaufnahmen und aus Fotos - das ist ja ein sehr, sehr modernes Gebäude, das der Schweizer Architekt Bernard Tschumi da geschaffen hat. Sie haben's gesagt, zweite Hälfte 19. Jahrhundert, selbst da fängt's ja schon an, aber gerade bei den noch viel älteren Dingen, funktioniert denn das, so alte Gegenstände, überwiegend ja auch im Original, in einem so modernen Glaspalast zu zeigen?

Scholl: Das ist, wie man auch schon an den ersten Medienreaktionen sehen kann, eine ästhetische oder aber auch geschmackliche Frage. Ich finde den Kontrast zwischen den von Tschumi gewählten Materialien - das sind Glas, Sichtbeton - sehr krass, um es vorsichtig auszudrücken. Er hat diese Linie konsequent umgesetzt. Die Objekte sind zum Teil hervorragend ausgestellt, in wunderbarem Licht zu sehen, was im alten Museum eben nicht der Fall war. Sie sind sehr weiträumig aufgestellt, man kann fast alle Skulpturen umschreiten und von allen Seiten sehen. Auch das war im alten Museum überhaupt nicht möglich. Das Gebäude ist, in voller Absicht natürlich, auch so groß dimensioniert, weil man mit Millionen von Besuchern im Jahr klarkommen muss.

Kassel: Wie wirkt denn der Boden? Man muss dazu ja wissen, das Museum steht ja auf Stelzen, das war auch einer der Hauptgründe für diese lange Verzögerung bei der Eröffnung, um eben Ausgrabungen zu schützen, alte Dinge, die da noch im Boden sind. Und nun hat man da sozusagen aus der Not eine Tugend gemacht, man soll das eigentlich auch sehen können durch gläserne Böden. Wie wirkt denn das?

Scholl: Ja, das wirkt sehr überzeugend. Sicher ist das nicht Jedermanns Sache, auf einem Glasboden zu stehen und zwölf Meter in die Tiefe zu schauen, da wird manchem sicher schwindelig. Aber man muss vielleicht zunächst sagen, dass der Platz für dieses Gebäude absolut optimal gewählt wurde, auch darüber hat es ja lange Debatten gegeben. Man hat dabei sehenden Auges in Kauf genommen, bei den Ausschachtungsarbeiten für das Gebäude auf Antiken zu stoßen. Das war vollkommen klar.

Dass man aber ein so dicht besiedeltes Viertel, das auch wunderbar zeigt, wie sich Athen in der römischen Kaiserzeit und in der Spätantike im Umfeld der Akropolis entwickelt hat, damit hatte man wohl nicht gerechnet, und das hat zu diesen Verzögerungen geführt. Dieses Problem hat man, denke ich, optimal gelöst. Man hat das Gebäude auf Stelzen, etwa anderthalb Meter dicke Betonsäulen gestellt, die auch wohl so gelagert sind, das sie selbst schwere Erdbeben abfedern können. Das ist natürlich bei einem so wichtigen Museum ein großes Problem.

An vielen Stellen des Hauses kann man nicht nur im Erdgeschoss durch diese Glasböden auf die Grabung schauen, sondern selbst in den oberen Stockwerken gibt es mehrere Situationen, wo man also bis, ich würde jetzt schätzen, 20 Meter tief durch die Glasböden auf die Grabung schauen kann. Und das ist sehr effektvoll gelöst. Aber das Beschreiten dieser Böden wird nicht Jedermanns Sache sein.

Kassel: Also nicht unbedingt für Kunstfreunde mit Höhenangst geeignet, da empfiehlt sich denn doch der Blick übers Internet. Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Andreas Scholl, dem Direktor der Antikensammlung Berlin, über das neue Akropolis-Museum, am Samstag offiziell mit großer Feier eröffnet. Er war die letzten Tage in Athen, hat das Museum dort selbst gesehen, und nun reden wir mal über den dritten Stock dieses Gebäudes, wo nun unter anderem der Parthenon-Fries zu sehen ist. Wie ist denn da nun die Wirkung, ich sag's mal ganz brutal, zwischen Original und Fälschung? Denn dort ist natürlich teilweise Originalmaterial, das die Griechen besitzen, aber alles, was fehlt, was in London oder sonst wo ist, ist durch Plastiken nachgemacht. Wie deutlich sieht man das?

Scholl: Ja, ich darf vielleicht zunächst etwas zu dem von Ihnen gewählten Begriff Fälschung sagen, davon kann natürlich überhaupt keine Rede sein, denn es handelt sich um Abgüsse. Und der Abguss ist seit dem späten 18. Jahrhundert ein auf antike Vorläufer zurückgehendes Medium, das absolut geeignet ist, Skulpturen korrekt wiederzugeben und einen authentischen Eindruck zu verschaffen.

Dieses Abgüsse, die historischen Abgüsse muss man sagen, die stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Abgüsse, die die Griechen gewählt haben, ergänzen die in Athen verbliebenen Originale sehr effektvoll und bieten in diesem neuen Ausstellungsraum einen absolut adäquaten Eindruck vom Gesamtensemble. Die Griechen hatten jetzt einfach durch eine farbliche Abtönung erreicht, dass man die goldbraun patinierten Originale des Frieses leicht unterscheiden kann von den weißlich-beige eingefärbten Abgüssen.

Kassel: Ist das denn egal, ob Original oder Kopie?

Scholl: Das ist natürlich nicht egal, aber das Statement, das ich machen möchte, ist, dass man mit einem guten Abguss das Original zu einem sehr hohen Grade ersetzen kann. Also ein guter Abguss vermittelt einen doch ganz authentischen Eindruck vom Original, das muss man einfach sagen. In der akademischen Tradition der mitteleuropäischen Universitäten spielen die Abgusssammlungen ja in den letzten 200 Jahren eine ganz große Rolle, und es ist an vielen Orten ja gelungen, eine Art "Musée imaginaire" zu schaffen, das es erlaubt, die gesamte Entwicklung der antiken Skulptur vom späten siebten Jahrhundert vor Christus bis in die Spätantike eben an guten Abgüssen zu verfolgen.

Insofern halte ich das für ein absolut legitimes Mittel, und die Griechen haben das selbst ja bei einer Vielzahl von anderen Skulpturen angewandt, von denen Fragmente entweder ins Ausland gelangt sind oder die - das muss man auch sagen - im Verlaufe der letzten 150, fast 200 Jahre auf der Akropolis massive Schäden genommen haben, denn die Originale, die nicht nach London gelangt sind, sind bekanntermaßen ja bis in die 80er- und 90er-Jahre am Bau verblieben - ich erinnere an die Korenhalle des Erechteion, aber eben auch den Westfries des Parthenon - und haben dann durch massive Luftverschmutzungen also massive Schäden erlitten, sodass also die Abgüsse auch dieser Teile, etwa des Westfrieses, der zum großen Teil in Athen ist, die historischen Abgüsse des 19. Jahrhunderts einen viel besseren Zustand zeigen als die erst sehr spät abgenommenen Originale.

Kassel: Wobei natürlich alles seine zwei Seiten hat. Wir wissen auch aus historischen Dokumenten, damals vom Ausgrabungsleiter Anfang des 19. Jahrhunderts in Athen, der im Auftrag von Elgin dort eben Teile des Frieses abgebaut hat, der hat selber wörtlich gesagt, das sei damals barbarisch gewesen. Und bei der Rettung dieser Dinge, die wir jetzt in London sehen können, seien eben, weil das auch nicht gerade absolute Fachleute damals waren, die gab's auch heute noch nicht so, teilweise Dinge zerstört wurden in der damals schwer zu erreichenden osmanischen Provinzstadt Athen.

Aber Frage zum Schluss: Wir werden ja nun diese große Rückgabefrage nicht klären können, zumal die in diesem Punkt viel heikler ist als in vielen anderen, weil es sich juristisch gesehen ja keineswegs um Raubkunst handelt, sondern um Dinge, wo es damals rechtlich einwandfrei war - heute kann man sich drüber streiten, aber das ist dann moralisch wieder, dieser Streit - Verträge gab. Aber die Frage ist doch, wenn ich mir jetzt dieses Museum vorstelle, ob's nun - Sie haben's ja ein bisschen feiner ausgedrückt, ich sag's simpel, es ist Geschmackssache, ob man's schön findet oder nicht ... Aber es ist 300 Meter unter der Akropolis in etwa, das heißt, es ist 300 Meter entfernt von dort, wo der Parthenon-Altar gebaut wurde, wo er stand, bis er zerstört wurde und einzelne Teile dort und hierhin. Wäre es nicht doch irgendwie schöner und auch für einen historisch denkenden Menschen angemessener, wenn das ganze Ding im Original, dort, 300 Meter unterm eigentlichen Altar wieder wäre?

Scholl: Das ist auch wieder eine Abwägungsfrage. Ich finde, dass diese Idee des Site-Museums, also des Museums am Platz der Ausgrabung, die übrigens auf der Akropolis zum ersten Mal in Griechenland realisiert worden ist, absolut funktioniert, auch mit einem Standort, der sich jetzt einige hundert Meter von der Akropolis entfernt befindet. Die Wahl des Platzes ist ausgezeichnet. Man hat auf allen Ebenen oder fast allen Ebenen des Museums einen ganz wunderbaren Blick auf die Südflanke der Akropolis und kann leicht - ich denke, auch als Laie - die Beziehung zwischen den Gebäuden auf der Akropolis, den Heiligtümern am Abhang, die in der Ausstellung auch eine große Rolle spielen, und den Objekten im Museum selbst herstellen.

Die ästhetische Bewertung der Abgüsse, die wir eben schon angesprochen haben, im Zusammenspiel mit den Originalen werden sicher die einzelnen Besucher ganz unterschiedlich sehen. Mein Punkt ist der, dass man dieses Gesamtensemble, auch im Blick auf die Tatsache, dass so ein erheblicher Teil sich in London befindet, als Einheit erleben und ich denke auch als Kunstwerk wirklich würdigen kann.

Kassel: Es bleiben Fragen offen, aber ich finde, das kann ja auch so sein, nachdem jetzt rund 200 Jahre drum gestritten wird, wollen wir das jetzt hier nicht klären. Ich danke Ihnen für das Gespräch! Andreas Scholl war das, der Direktor der Antikensammlung Berlin. Er war zu Besuch und mit dabei bei der Eröffnung des neuen Akropolis-Museums in Athen. Ich danke erst mal fürs frühe Aufstehen, wenn man um zwei Uhr nachts zurückkommt, und es ist ja wahrscheinlich auch schwer gefeiert worden in Athen, dann ist das doch extrem freundlich. Danke Ihnen!

Scholl: Bitte sehr!
Blick in das neue Akropolismuseum in Athen
Blick in das neue Akropolismuseum in Athen© Alkyone Karamanolis
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