Sigmund Freuds Kulturbegriff

Kultur macht nie bloß Spaß

Übermalte Fotoporträts des Denkers im Wiener Sigmund Freud Museum 2006
Übermalte Fotoporträts des Denkers im Wiener Sigmund Freud Museum 2006 © dpa / picture alliance / Guenter R. Artinger
Von Gesine Palmer · 15.01.2018
Das Wesen der Kultur sei mit Schwierigkeiten behaftet, meinte Sigmund Freud im Jahr 1930. Die Religionsphilosophin Gesine Palmer empfiehlt Freuds Text "Das Unbehagen in der Kultur" allen, die heute allzu hitzig über Kultur debattieren.
Kultur ist nichts für Leute, die glücklich sein wollen. Ganz generell nicht. So jedenfalls sah es Sigmund Freud. Schon der Titel seines berühmten Textes "Das Unbehagen in der Kultur" von 1930 sagt es. Und während er sich um schonungslose Kritik an "unserem jetzigen" – also damaligen – "Kulturzustand" bemühte, warnte er zugleich vor übertriebenen Hoffnungen. Man müsse sich, meinte er, mit dem Gedanken vertraut machen, "dass es Schwierigkeiten gibt, die dem Wesen der Kultur anhaften und die keinem Reformversuch weichen werden."
Dennoch haben sich insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg viele Reformbestrebungen auf Freud und andere Kulturkritiker des frühen 20. Jahrhunderts berufen. Das Ergebnis ist real: Wir genießen hier in Europa größere Freiheit in der Lebensgestaltung, mehr Gleichberechtigung der Geschlechter und Klassen und eine Teilhabe am Kulturleben sehr vieler Menschen. Dennoch: Kulturarbeit, von wem immer unternommen, besteht auch darin, dass man hin und wieder einen guten alten Text zur Hand nimmt, erneut liest und sich fragt: Wo stehen wir denn da heute?

Unbehagen an der je eigenen Kultur überwiegt

Nach Jahrzehnten der Auseinandersetzungen um verschiedene Kulturen und ihre Beziehungen zueinander scheint sich heute das (nach Freud unvermeidliche) Unbehagen in allen Kulturen überwiegend als ein Unbehagen in der je eigenen Kultur darzustellen. Das mag tatsächlich an einer falschen Glückserwartung liegen.
Wer sich zeitgenössische Debatten anhört, muss mit ein klein wenig Abstand zu dem Schluss kommen, dass die Leute verrückt geworden seien. Da schreien die einen lautstark: "Unsere Kultur ist die beste! Schluss mit den permanenten Entschuldigungen!" Und die anderen haben so viel Angst davor, gegenüber einer fremden Kultur noch kenntlich zu sein, dass sie selbst als Bischöfe auf Besuch im Ursprungsland des Christentums ihre Kreuze nicht offen tragen mögen.

War die Rede von "den Kulturen" falsch?

Wie konnte das passieren? Zunächst schien doch die Idee, nicht mehr von "der Kultur", sondern von "den Kulturen" zu sprechen, ganz gut zu sein und zu Frieden und Gleichmaß in der Welt beizutragen: Man musste nicht mehr alles, was anders war als unsere Art, Dinge zu tun, gleich barbarisch nennen. Sah es nicht mal so aus, als würde mit einer allgemeinen Ausnüchterung nach den konfessionellen und dann nationalistischen Kriegen in Europa ein friedlicher Wettbewerb der Kulturen die alten kriegerischen Vernichtungsfeldzüge mehr im Sinne von Olympiaden sublimieren?
Also haben wir versucht, die anderen gut zu finden, selbstkritisch und offen zu sein. Bis dann alles entglitt, als aus den Krisenregionen der Welt sehr viele Menschen hierher kamen, die sich oft in ihren eigenen autoritär überdrehenden Kulturen mehr als unbehaglich fühlten. An sie heftete sich ein Unbehagen in unserer Kultur: Die einen projizierten es direkt auf das Fremde und idealisierten dieses bis zur Verantwortungslosigkeit - selbst dann noch, wenn insbesondere weibliche Angehörige der fremden Kultur von ihren eigenen Leuten misshandelt und getötet wurden. Die anderen zeigten mit einem doppelten Rittberger der Verachtung ihr Unbehagen, indem sie, was sie für die eigene deutsche Kultur hielten, in hysterischer Tonlage verteidigten.

Eine Kultur mit Zumutungen

Hier könnte Freud mit seiner Feststellung, dass Kultur nie nur Spaß macht, durchaus ein bisschen zur Abkühlung beitragen. Die fremden Kulturen bringen der unseren nicht das totale Heil – und nicht das totale Unheil. Sie kämpfen mit ihren eigenen Schatten wie wir mit unseren. In der Auseinandersetzung mit ihnen wird, wer hier Verlierer war, nicht zum Anführer.
Und an ihren Anführern wie ihren Verächtern können wir nur lernen, gegen welch massive Autoritätslust unsere europäischen Freiheiten errungen wurden. Das könnte uns helfen, unsere freiheitliche und offene Kultur trotz ihrer Zumutungen wieder ein bisschen gern zu haben.

Gesine Palmer, geboren 1960 in Schleswig-Holstein, studierte Pädagogik, evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. Nach mehrjähriger wissenschaftlicher Lehr- und Forschungstätigkeit gründete die Religionsphilosophin 2007 das "Büro für besondere Texte".

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