Sie liest alles, außer Bücher

02.05.2011
14 ganz unterschiedlich geartete Geschichten versammelt dieser Erzählungsband von Tobias Wolff, der seit 1997 Kreatives Scheiben in Stanford lehrt. Doch alles andere als blasse Professorenprosa sind diese <em>stories</em>, welche überwiegend neueren, in vier Fällen aber älteren Datums sind.
"Jäger im Schnee" zum Beispiel stammt aus dem Jahr 1982, und erzählt in nahezu klassischer Weise von drei jungen Männern auf der Hirschpirsch im Winter. Frank und Kenny hänseln ihren dicklichen Freund Tub, der Frust wird immer größer, als mit zunehmender Dunkelheit klar ist, dass sie kein Tier zur Strecke bringen werden.

Dann eskaliert die Situation in Sekundenbruchteilen. Die Meisterschaft Wolffs erweist sich in dieser wie in vielen anderen Geschichten in der Kunst des Dialogs und des Details – und sei es nur die akkurate Beschreibung der Bewegungen eines Wachhundes, der Eindringlinge verbellt: "Bei jedem Bellen rutschte er ein bisschen rückwärts, wie beim Rückstoß einer Kanone."

Solche unmittelbar sinnfälligen Bilder finden sich in Wolffs geschliffener Prosa zuhauf. Ihn interessieren die oft vernachlässigten kleinen Gesten, in denen sich so viel zeigt: Da lehnt ein Mädchen am Knie eines Mannes und wippt "rhythmisch dagegen, unpersönlich, wie es Kinder tun, wenn sie irgendein ferner Gedanke anfliegt oder etwas, das sie plötzlich interessiert".

Diese stories steuern oft auf keine Pointe zu, der Leser wird nach wenigen Seiten wieder aus ihnen entlassen, ohne dass sie irgendeine Auflösung erfahren hätten. Und sie hallen wohl deshalb so nach, weil genau so das Leben verläuft. Überdies muss man erst mal auf so einen Anfangssatz kommen: "Meine Mutter las alles, außer Bücher. Werbung auf Bussen, ganze Speisekarten, während wir aßen, Anzeigetafeln; sobald es nicht zwischen zwei Buchdeckeln stand, interessierte es sie." Und unser Interesse ist auch geweckt.

Feinfühlig lotet Tobias Wolff in einer Geschichte das Seelenleben eines seine Homosexualität verheimlichenden Soldaten aus und in einer anderen das eines Vaters, der zunächst alles dafür tut, seinen Sohn gegen dessen Willen auf eine Militärakademie zu schicken, um dann, kaum dass der dort angekommen ist, alles zu versuchen, ihn wieder mit nach Hause zu nehmen: "Wie war das passiert? … Und warum hatte er das überhaupt alles in Erwägung gezogen – seinen Jungen irgendwelchen unbekannten Disziplinierungen und Urteilen zu unterwerfen, irgendwelchen Autoritäten, von denen er nichts wusste, außer dass sie ohne Geduld, Humor und Gnade waren? Von allen Rätseln war dies das verblüffendste."

Die Komplexität von Vater-Sohn-Beziehungen - das weiß man seit seiner autobiographie romancée "This boy’s life" - versteht keiner so gut auszuleuchten wie Wolff. Moralische Dilemmata sind dabei seine Spezialität: Ein treusorgender Familienvater muss sich um die Beerdigung seiner Mutter kümmern und merkt, dass die ihm gegenübersitzende Bestattungsunternehmerin die Begierde in ihm weckt. Obwohl sie ihm überdeutlich signalisiert, dass auch sie Lust hätte, schreckt er davor zurück, seine erotische Fantasie Realität werden zu lassen - vielleicht, mutmaßt er, aus dem "kindlichen Gefühl, von dem Gott beobachtet zu werden, an den er träge glaubte." Für solche und ähnliche Sätze liebt man den begnadeten Erzähler Tobias Wolff.

Besprochen von Knut Cordsen

Tobias Wolff: Unsere Geschichte beginnt
Erzählungen
Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert
Berlin Verlag, Berlin 2011
224 Seiten, 22 Euro