Selbstwert oder gelernter Hass

Wie uns die frühe Kindheit prägt

Eine Frau mit einem kleinen Kind.
Eine Frau mit einem kleinen Kind. © imago/Westend61
Von Ulrike Jährling · 31.07.2017
Was braucht ein Kind wirklich zum Großwerden, um ein gesundes Selbst und Empathie zu entwickeln? Wie gut und wie intensiv soll und darf die Bindung sein? Ist frühe Selbstständigkeit ein hohes Gut? Ein Feature über frühkindliche Prägung.

Im Zeitfragen-Podcast hören Sie regelmäßig, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt: Welche Trends, Tabus und Einstellungen treiben uns um?

Auszug aus dem Text:
Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt und Autor des Buches "Born to be wild - wie die Evolution unsere Kinder prägt". Jenseits aller Erziehungstrends schaut er darauf, wie wir als Menschen eigentlich gestrickt sind. Tief in uns läuft das Überlebensprogramm. Und am sensibelsten ist es am Anfang.
"Nähe war eigentlich immer für uns Menschen unverhandelbar. Wir haben nicht immer in den Bedingungen gelebt wie heute, Dreifachglasfenster, Zentralheizung usw., sondern wir waren wirklich 99 Prozent der menschlichen Geschichte als Jäger und Sammler unterwegs und hatten unsere kleinen extrem unreif geborenen Lebewesen, unsere Menschenjungen, bei uns und damit die überlebt haben in den Bedingungen da brauchte es eine Riesenportion an Nähe. Klar wurden die getragen, klar wurden die lange gestillt, klar haben die bei ihren Eltern geschlafen."
Sicherheit sei für ein Kind niemals etwas Kognitives, betont der Kinderarzt Herbert Renz-Polster.
"Sicherheit ergibt sich für das Baby oder das Kleinkind nicht daraus, dass es weiß, da läuft das Babyphon oder da ist das Smartphone da, dass das Kind aufzeichnet, sondern es ist einfach ein Gefühl. Hier bin ich sicher. Hier bin ich mit Leuten, die zur Not alles für mich geben. Und das heißt, die nachts auch da sind, wenn der Bär da draußen im Unterholz brummt. Dann ist da jemand bei mir und, kein Wunder, sorgen Kinder, vor allem wenn sie müde werden, natürlich absolut für Sicherheit: Hier will ich jemand bei mir haben, der für mich sorgen kann."
"Es sind die ersten drei Monate nach der Geburt, die eigentlich die wichtigsten sind, für vollen Kontakt mit den Eltern. Körperlichen Kontakt!"
Der Tiefen-Psychologe Arno Gruen in einer Archivaufnahme des Deutschlandradios von 2014. Arno Gruen steht für die These, dass in frühester Kindheit sogar die Grundsteine für Gewalt und Rassismus gelegt werden können. Eben wenn es an Nähe, Zuwendung und körperlichem Kontakt mangelt. Denn alles was ein Kind beim Start ins Leben braucht ist die Erfüllung seiner Bedürfnisse. Arno Gruen:

"Das hilft dem Kind dann seine Anlagen, könnte man sagen, zu entwickeln. Wenn wir dagegen glauben, wir müssen von Anfang an das Kind dazu bringen unabhängig zu sein, dann passiert ganz was Anderes. Nämlich: Ein Kind muss dann seine eigene Not, seinen eigenen Schmerz verleugnen. Und das muss dann Dinge tun, um sich sicher zu fühlen. Und das ist dann die Basis dessen, was dazu führt, dass man erobern muss, dass man andere runter machen muss und dass man dauernd fühlt, dass man in einem Wettbewerb sein muss, um stark zu sein."

Verdrängter Schmerz, sagt Gruen, kann aggressiv machen. Oder depressiv. Oder dazu führen, das Erlittene weiter einzufordern.

Wie erlernen wir Empathie?

Ein sicher gebundenes Kind wird groß, mutig und geht in die Welt hinaus, übt das Sozialsein. Doch wie wird aus dem "Ich bin ich" und "Das ist meins!" ein "Du bist auch noch da" und "Ich sehe, wie es dir geht"? Wie erlernen wir Empathie?
"Das kommt, ja, das ist angelegt in uns, aber braucht einen Rahmen. So wie unsere Entwicklung eben immer als Menschen nur kanalisiert ist. Die ist nicht jetzt ‚vorgespurt‘, wie ‘ne Pflanze, ne Tomate aufgeht, bei uns ist es als Leitplanken angelegt, aber das braucht einen bestimmten Rahmen."
Es braucht unter anderem gute Beziehungen, sagt Herbert Renz-Polster, Beziehungen, in denen ein Kind Wertschätzung erfährt. Der Tiefen-Psychologe Arno Gruen, der 2015 gestorben ist, würde hinzufügen, Beziehungen, in denen das Kind "nicht gehorsam" sein muss. Gruen meint mit dem Wort Gehorsam das kompromisslose Artigsein: "Du bist still, wenn ich es sage, du tust, was ich verlange und zwar ohne Diskussion." Androhung von Strafen inclusive.

"Gehorsam meint ja, dass man das eigene Selbst nicht wirklich entwickeln kann. Dass man keine wirkliche Verantwortung für sich selbst entwickelt. Sondern dass man nur darauf bedacht ist, es dem anderen, der Gehorsam verlangt, es Recht zu machen. Das führt natürlich im Ende politisch zu all den Schwierigkeiten, die wir dauernd haben in der ganzen Welt und am Ende zu Autorität, zu Faschismus, zu Gewalt."

Die politische Dimension der frühen Kindheit

Arno Gruen sprach regelmäßig davon, dass die frühe Kindheit eine politische Dimension erreichen könne. Grundlage der Demokratie sei Empathie, also die Fähigkeit zum Mitfühlen. Nicht der erlernte Gehorsam.
"Wir dagegen sehen Schmerz und die Fähigkeit auf Schmerz einzugehen, als Schwäche. Das ist natürlich das, was gegen das Menschlichem das mit Demokratie verbunden ist, wirkt."
"Wir haben ja viele Studien. Die US-Elite-Einheiten, die in Vietnam für ihre besondere Härte und Grausamkeit bekannt waren, das waren Menschen, die in ihrer Lebensgeschichte ganz anders waren wie Kriegsdienstverweigerer in Amerika dieser Zeit. Während die Kriegsdienstverweigerer mit Eltern oder Bezugspersonen aufgewachsenen waren, die ihr Kind-Sein weitgehend akzeptierten – im Gegensatz dazu mit den "Green Berets" war das eine ausgesprochene autoritäre Erziehung mit massiver körperlicher Gewalterfahrung. Und das waren Menschen, die Schmerz verneinten und andauernd anderen Schmerz zufügten."

Wer geschlagen wurde, der schlägt später wieder – eine oft zitierte These.
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