Sehnsucht nach Normalität

Von Andreas Baum · 04.08.2005
Nach der Erfahrung der Blockade von 1948/49, wuchs in den drei Westsektoren Berlins die Sehnsucht nach einem wirtschaftlichen und rechtlichen Gefüge, auf das Verlass war. Westberlin erklärte sich deshalb am 4. August 1950 zum Teil der Bundesrepublik Deutschland. Doch die Westalliierten wussten zu verhindern, dass Westberlin tatsächlich Teil der Bundesrepublik wurde - bis 1990.
Nach der Erfahrung der Blockade von 1948/49, als die Handelswege von Westberlin ins Umland und in den sowjetischen Sektor gekappt worden waren, wuchs in den drei Westsektoren der Stadt die Sehnsucht nach einem wirtschaftlichen und rechtlichen Gefüge, auf das Verlass war. Die Insel Westberlin, das hatte sich gezeigt, brauchte mehr als den Schutz der Militärs. Eine feste Bindung an die Bundesrepublik Deutschland schien wichtiger als je zuvor. Der Oberbürgermeister von Westberlin, Ernst Reuter, nahm die Bonner Republik am 4. August 1950 in die Pflicht.

"Ohne die ökonomische und politische Integrierung Berlins in den Westen und umgekehrt, ohne die intensive Beteiligung des Westens an Berlin und ohne die Übernahme einer echten politischen dauerhaften Verantwortung für Berlin lässt sich das Problem Berlin nicht lösen."

Die echte Übernahme der Verantwortung des Bundes für Berlin – diese Forderung drückte sich in der Verfassung, über die am selben Tag im Stadtparlament abgestimmt wurde, so aus:

"Artikel 1:
Berlin ist ein deutsches Land und zugleich eine Stadt.
Berlin ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland.
Grundgesetz und Gesetze der Bundesrepublik Deutschland sind für Berlin bindend."

Am 4. August 1950 erklärte das Stadtparlament der drei Westsektoren Berlin kurzerhand zu einem Teil der Bundesrepublik Deutschland - ungeachtet der Frage, wie die Alliierten damit umgehen würden, und wie die Bonner diesen Schritt auffassen würden. Für Ernst Reuter brachte diese Verfassung vor allem Rechtssicherheit.

"Indem sie Berlin endlich zu einem Lande macht, erklärt sie jedem, was Berlin eigentlich ist. Und indem durch die Bestimmungen unserer Verfassung, Angleichung der Gesetzgebung an die Gesetzgebung der Bonner, der westdeutschen Bundesrepublik erleichtert und vereinfacht wird, gibt sie uns die Möglichkeit, und hoffentlich auch unseren Landsleuten in Westdeutschland, die Möglichkeit und die Gelegenheit, die Zusammenarbeit in Berlin in allen Einzelheiten des täglichen Lebens so zu fördern, wie wir sie gebrauchen."

Dazu aber bedurfte es noch einer kleinen Ergänzung der Verfassung, bevor sie am 1. Oktober desselben Jahres in Kraft treten konnte. Denn die Westberliner hatten die Rechnung ohne die Alliierten gemacht: Nach der Erfahrung der Berlin-Blockade wollten die US-Amerikaner, die Briten und die Franzosen ihr Durchfahrtsrecht durch die DDR auf keinen Fall gefährden. Der Status von Berlin als besetzte Stadt musste um jeden Preis unangetastet bleiben. Darüber hinaus wollte man es sich offensichtlich ersparen, mit der Bonner Regierung um Kompetenzen streiten zu müssen, falls es bei einem Konflikt nötig werden sollte, dass die Westalliierten schnell und direkt das Kommando über ihre Sektoren in Berlin übernehmen. Die Verfassung wurde deshalb nur mit einem besonderen Passus abgesegnet:

"Artikel 1 Abs. 2 und 3 der Verfassung treten in Kraft, sobald die Anwendung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland in Berlin keinen Beschränkungen unterliegt.
In der Übergangszeit kann das Abgeordnetenhaus durch Gesetz feststellen, daß ein Gesetz der Bundesrepublik Deutschland unverändert auch in Berlin Anwendung findet."

Damit war die Wirkung des Artikels 1, demzufolge Berlin ein Land der Bundesrepublik Deutschland sei, vollständig verpufft. Denn jedermann wusste, dass der Tag, an dem der Bonner Teilstaat seine Souveränität auf Berlin ausdehnen würde, fern war. Die westlichen Stadtkommandanten konnten den Berlinern nun gratulieren:

"Die von der Alliierten Kommandantur genehmigte neue Verfassung Berlins festigt die Stellung Berlins als Partner der demokratischen Gemeinschaft. Die Vorbehalte, die sie bei der Bestätigung der Verfassung zum Ausdruck gebracht haben, schmälern nicht ihre Bedeutung als Meilenstein in der Entwicklung der Berliner Selbstverwaltung."

Diese Sprachregelung, die den provisorischen Status von Berlin offiziell feststellte, erlaubte es auch der DDR, Westberlin als "besondere politische Einheit" zu betrachten, in der die Bundesrepublik keinerlei Hoheitsakte durchführen durfte. Jedes Gesetz, das in Bonn beschlossen worden war, musste erst eigens vom Berliner Abgeordnetenhaus übernommen werden. Wehrdienstflüchtlinge konnten in Westberlin nicht belangt werden und bis in die achtziger Jahre hinein diskutierten Juristen darüber, ob Westberlin als "besetztes und nicht handlungsfähiges Gebiet des Deutschen Reiches" anzusehen sei. Erst 1990 wurde Berlin mit dem deutschen Einigungsvertrag wirklich das, was es nach dem Willen der Politiker in den Westsektoren schon 1950 hätte sein sollen: ein Teil der Bundesrepublik.