Schreckgespenst für die Autorität

Von Claus Menzel · 02.09.2006
Er war das ideologische Zentrum der Außerparlamentarischen Opposition, ein Schreckgespenst für die Mächtigen im Staat: der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Mit Rudi Dutschke hatte der Verband einen gewaltigen Wortführer. Die Bedeutung des SDS, der vor 60 Jahren in Hamburg gegründet wurde, ist heute umstritten.
Für die einen, wie etwa den Frankfurter Sozialphilosophen Jürgen Habermas, war dieser Verband mit einer Realitätsblindheit geschlagen, die bis zu Wahnvorstellungen reichte. Für andere, wie etwa den österreichischen Marxisten Ernst Fischer, verkörperte er indessen den Aufstand der Fantasie gegen den Rückstand der Realität. Eine deutliche Mehrheit der Deutschen aber dürfte wie der Soziologe Helmut Schelsky diesen Verband als eine Gruppe krimineller Revoluzzer gesehen haben, gegen die mit allen Mitteln vorzugehen Pflicht und Aufgabe der staatlichen Instanzen sei.

Tatsächlich: Viele Freunde hat sich dieser am 2.September 1946 in Hamburg gegründete Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) nicht gemacht. Jahre- und jahrzehntelang kaum mehr als ein akademischer Zirkel junger karrierebewusster Sozialdemokraten, war just der SDS in den späten 60er Jahren zu Keimzelle und Motor der großen Studenten- und Jugendrevolte geworden.

SDS-Anhänger demolierten Autos, ramponierten Schaufenster, blockierten Hauptverkehrsstraßen und diskreditierten, was den Deutschen heilig war: ihren Wohlstand, ihre Autoritäten und, vor allem, jenen anti-kommunistischen Grundkonsens, der nach 1949 als Staatsraison des westdeutschen Teilstaats galt. Was Wunder folglich, dass, als der SDS im Februar 1968 zu einer Demonstration gegen den Krieg der USA in Vietnam aufgerufen hatte, West-Berlins politische Repräsentanten auf einer so genannten Freiheitskundgebung deutlich sagten, was sie vom SDS und seinen Anhängern hielten :

"Wir Berliner haben nicht aus geistigen, moralischen und materiellen Trümmern unvergleichlichen Ausmaßes unsere Stadt in den letzten 23 Jahren wieder aufgebaut, um sie von einigen Außenseitern und Spinnern gefährden zu lassen."

Soweit Kurt Mattick, damals Chef der Berliner SPD, und soweit Franz Amrehn, damals Chef der Berliner CDU:

"Das gefährliche Rüpelspiel der Randalierer muss jetzt ein Ende haben. Wir haben nicht über 20 Jahre lang unsere freiheitliche Existenz gemeinsam verteidigt, um sie dann von einer Schar anarchistischer Weltverbesserer zerstören zu lassen."

Spinner? Anarchistische Weltverbesserer? Oder doch nur Leute, die Ernst machen wollten mit jenem Programm, das sich der SDS bei seiner Gründung unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegeben und das der spätere SPD-Parlamentarier Karl Wilhelm Berkhan mit den Worten umschrieben hatte :

"Eine Wiedererstarkung der sozialistischen Bewegung ist nur möglich, wenn sie sich wieder von revolutionärer Gesinnung leiten lässt."

Nur dass von revolutionärer Gesinnung bald die Rede nicht mehr sein konnte und durfte. Rasch jedenfalls erschöpfte sich der Wille des SDS zur Veränderung in so gut gemeinten wie fruchtlosen Vorschlägen zur Reform der deutschen Hochschulen. Und als der SDS gegen eine Mutterpartei zu opponieren begann, die ihr Heil in der Kapitulation vor der normativen Kraft des Faktischen sah und sich ihren politischen Gegnern mehr und mehr anpasste, war die Trennung von der SPD nicht mehr zu vermeiden.

Nun erst geriet der SDS zum Sammelbecken wissenschaftlich meist hoch qualifizierter Jungakademiker, die aus einer Analyse der bestehenden Gesellschaft neue, politisch hochbrisante Thesen ableiteten. Ihr Wortführer, der DDR-Flüchtling Rudi Dutschke:

"In der Vergangenheit wurde durch das konkrete Elend der Massen der Punkt gefunden, an dem sich einzelne Leute mit den Massen, den Verelendeten solidarisieren konnten, um politische Aktion zu machen. In der Gegenwart ist der Ausgangspunkt nicht ein konkretes verelendetes Dasein von Massen sondern Ausgangspunkt im Wesentlichen eine Einsicht über bestehende Machtverhältnisse. So wird also das Wissen um Gesellschaft zur Aktion."

Es begann mit schütteren Demonstrationen etwa gegen den Kongo-Diktator Moise Tschombe. Doch als im Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg von einem Berliner Polizisten hinterrücks erschossen wurde, die Justiz den Täter freisprach und die Zeitungen des Springer-Konzerns die empörten Studenten als roten Mob diffamierten, den es auszumerzen gelte, stieß der SDS an den Universitäten auf Sympathie. Die Schlagzeilen der Bild-Zeitung und die Schlagstöcke der Polizei zerstörten die dünne Firnis aus Toleranz und Liberalität, unter der sich die autoritären Strukturen der postfaschistischen Gesellschaft verborgen hatten.

Das immerhin hatte der SDS erreicht. Mehr erreichte er nicht. Am Gründonnerstag 1968 wurde Rudi Dutschke in Berlin niedergeschossen - noch einmal solidarisierten sich Zehntausende mit diesem Bund und seinem Wortführer. Aber der Höhepunkt seiner Popularität war zugleich das Ende. Einige seiner Anhänger wurden zu ideologischen Botschaftern Mao-Tse-Tungs, andere versanken im Terrorismus der Baader-Meinhof-Gruppe. Die meisten freilich suchten brav ihren Weg zu den Fleischtöpfen und Gehaltscomputern des Establishments.

Am 21. März 1970 beschloss der SDS seine Selbstauflösung.