"Schon wurden die wüstesten Spekulationen laut"

Robert Baag im Gespräch mit Dieter Kassel · 05.08.2009
In Moskau wird der Prozess um den Mord an der russischen Journalistin Anna Politkowskaja neu aufgerollt. Nach Einschätzung von Deutschlandradio-Korrespondent Robert Baag begann die zweite Runde in dem Prozess "unspektakulär".
Dieter Kassel: Die russische Journalistin Anna Politkowskaja hat jahrelang für die Zeitung "Nowaja Gaseta" vor allem aus dem Kaukasus berichtet über den Tschetschenienkrieg, und mit ihrer Vorstellung vom Journalismus hat sie viele mächtige Menschen im großen Russischen Reich regelmäßig verärgert. Dass sie gefährlich lebte, das hat sie auch vor ihrer Ermordung am 7. Oktober 2006 durchaus gewusst. Bereits zwei Jahre davor nämlich, im Jahr 2004, hat sie sich dazu ziemlich eindeutig geäußert.

Anna Politkowskaja: Wissen Sie, ich verstehe Ihre Frage. Warum lebe ich noch? Wenn ich ernsthaft darüber nachdenke, erscheint es mir wie ein Wunder. Bis jetzt hält mich etwas auf der Erde zurück. Es ist wirklich ein Wunder.

Kassel: Anna Politkowskaja im Jahr 2004 zu der Frage, warum sie eigentlich überhaupt noch am Leben ist. Am 7. Oktober 2006 wurde sie, wie bekannt, ermordet, vor ihrer Wohnung in Moskau. Ihr angeblicher Mörder ist flüchtig. Seine Helfer jedoch, die wurden vor Gericht gestellt. Im Februar diesen Jahres jedoch endete der Prozess gegen sie mit einem Freispruch, heute nun begann der Prozess gegen die gleichen Männer noch einmal, da der Oberste Gerichtshof in Russland beschlossen hat, dass der Prozess wegen Verfahrensfehlern wiederholt werden muss.

Ich begrüße jetzt unseren Moskau-Korrespondenten Robert Baag, Herr Baag, der erste Prozesstag ist ja jetzt bereits wieder zu Ende und das Gericht hat beschlossen, sich erst mal auf Freitag zu vertagen. Was ist denn heute passiert?

Robert Baag: Genau, so unspektakulär wie Sie es eben beschrieben haben, lief es eigentlich auch ab. Das Einzige, wo man sagen kann, es hat ein bisschen Farbe in diesen Auftakt hineingebracht: Als das Gericht beginnen wollte, fehlte ein Angeklagter und schon wurden die wüstesten Spekulationen laut.

Zehn Minuten später tauchte er auf, einer dieser beiden tschetschenischen Brüder, die als Helfershelfer beschuldigt worden sind, freigesprochen, wie Sie es eben erwähnten, und er sagte dann ganz cool, ja, ich habe meinen Personalausweis im Wagen vergessen, war im Stau und der Wagen steht jetzt auf einem Parkplatz, ich konnte nicht früher kommen. Das war es dann aber auch.

Die Verteidiger und auch die Nebenkläger, die sagten, sie hätten gerne einen neuen Prozess an sich und nicht auf dieser Daten- und Beweismateriallage, wie sie dem alten Prozess vorlag. Dieses wird der Knackpunkt sein, das schälte sich heraus, das war im Vorfeld vermutet worden.

Dass die Staatsanwaltschaft ihrerseits den Nebenklägern, man könnte sagen, in Anführungszeichen, entgegen kamen, lässt sich daraus sehen, dass sie ihrerseits beim Gericht beantragte, dieses neue Verfahren, dieses wiederholte Verfahren zusammenzulegen mit einem anderen Verfahren, das gegen den flüchtigen, ältesten (…)-Bruder, den (…) zusammengelegt werden soll. Er soll der angebliche Mörder sein, er soll den Zeigefinger krummgemacht haben auf der Pistole, fünf Mal auf Anna Politkowskaja damals im Oktober 2006 geschossen haben.

Wie gesagt, er soll es sein, da haben die Verteidiger ihre eigene Version dafür, werfen Ermittlungsfehler vor, auch das ein Gegenstand, warum dieser Prozess noch einmal aufgerollt werden soll, aber der Richter gab den Undurchdinglichen am Ende und hat, wie Sie es sagten, die ganze Angelegenheit erst einmal auf übermorgen vertagt.

Kassel: Wenn ein Prozess neu aufgerollt wird wegen angeblicher Verfahrensfehler - das ist eigentlich ja nichts Schlimmes, ganz im Gegenteil, das passiert auch in westlichen, demokratischen Rechtsstaaten. Aber ist denn der Eindruck, den man vielleicht ganz oberflächlich haben könnte, das ist jetzt auch in Russland ein Sieg des Rechtsstaates, dass es diesen Prozess nun gegen die gleichen Verdächtigen noch einmal gibt, überhaupt richtig?

Baag: Nein, ganz so einfach sollte man es sich nicht tun. Es ist in der Tat sensationell gewesen, so ist es ohne zu übertreiben damals im Februar auch aufgenommen worden, dass es zu diesem Freispruch gekommen ist, denn die Regel sieht ganz anders aus. Hier versteht sich das Gericht meist als verkündender Arm – was das Urteil angeht – der Staatsanwaltschaft.

In dem speziellen Prozess, dem ersten Prozess im Mordfall Politkowskaja, scheint sich aber die Ermittlung, die Staatsanwaltschaft und das Gericht in einem Punkt verkalkuliert zu haben, lassen Sie es mich so formulieren. Das Ganze ist zwar ein Militärgericht, aber zugleich auch ein Geschworenengericht, und womit die Richter und die Staatsanwälte offenbar nicht gerechnet haben: dass unter den Geschworenen Leute mit Zivilcourage waren, die Einschüchterungen und Bevormundungen ganz offen entgegengetreten sind.

Berühmt der Fall eines Geschworenen, der sogar bei dem bekannten Radiosender Echo Moskwy auftauchte und sagte: Man hat uns heute erzählt, wir sollen sagen, wir fürchten uns vor der Presse, und deswegen soll der Richter die Öffentlichkeit ausschließen. Natürlich fürchten wir uns nicht vor der Presse.

Und da sah das Gericht dann ziemlich verlegen drein, als dies über die Ätherwellen – und das hört man bis an die pazifischen Küsten, diesen Sender –, als das klar wurde. Und dann war schon klar: Dieser Prozess gerät in eine ziemliche Schieflage, und am Ende kam es dann zu diesen Freisprüchen, die – und das sollte man nicht vergessen – sogar von den Nebenklägern, also den Verwandten von Frau Politkowskaja, begrüßt worden sind, weil, so die Argumentation, damit klar ist, dass es ein Freispruch mangels Beweisen ist.

Sie gehen zwar davon aus, dass diese tschetschenischen Brüder, die freigesprochen worden sind, am Rande mit dem ganzen Vorgang etwas zu tun haben könnten, aber dass die Sündenböcke, die sie eigentlich ursprünglich wohl hätten spielen sollen, diese Rolle, dieser Plan ist wohl erst mal durchkreuzt worden im Sinne des Staates hier.

Kassel: Was nun dieser neue Prozess bringen kann, das ist natürlich am Tag des Prozessbeginns reine Spekulation, aber die Hoffnungen sind wohl auch in Russland nicht allzu groß. Dimitri Muratow, der Chefredakteur der "Nowaja Gaseta", der Zeitung, für die Anna Politikowskaja gearbeitet hat bis zu ihrem Tod, der hat sich bereits geäußert, und er ist nicht sehr optimistisch.

Dimitri Muratow: Die Mörder der Journalisten fühlen sich unserer Staatsmacht sozial näher als den Journalisten. Vor einiger Zeit haben Killer unseren Kollegen Sergej Solowkin, den Korrespondenten der "Nowaja Gaseta" im südrussischen Krasnodar erschossen. Sie konnten glücklicherweise festgenommen und verurteilt werden. Der Auftraggeber wurde bis jetzt nicht gefunden. Diese gesellschaftliche Atmosphäre, die der damalige Präsident Putin beim Tod Anna Politkowskajas am klarsten formuliert hatte, wonach ihr Tod Russland mehr geschadet habe als ihre journalistische Arbeit – dies hat eine gesellschaftliche Atmosphäre mit einem Gefühl fast völliger Straflosigkeit bei den Mördern produziert.

Kassel: Dimitri Muratow, der Chefredakteur der "Nowaja Gaseta", einer der wenigen unabhängigen Zeitungen in Russland und der Zeitung, bei der Anna Politkowskaja bis zu ihrem Tod gearbeitet hat. Wir reden heute, an dem Tag, an dem der zweite Prozess gegen drei Männer, die angeblich am Mord an der Politkowskaja beteiligt gewesen sein sollen, in Moskau begonnen hat mit unserem Russland-Korrespondenten Robert Baag. Herr Baag, lassen Sie mich zur Pressefreiheit in Russland mal eine ganz einfache Frage stellen: Sender wie den Radiosender Echo Moskwy, den Sie gerade erwähnt haben, oder auch die Zeitung "Nowaja Gaseta" – warum gibt es die eigentlich überhaupt noch?

Baag: Nun, gerade was den Sender Echo Moskwy angeht, da gibt es ein Bonmot hier, und das ist aber gar nicht von der Hand zu weisen: Es heißt, dass sogar im Kreml der Sender relativ oft gehört wird, denn über diesen Sender bekäme man im Wesentlichen – gerade was Call Inns und solche Dinge angeht, also Hörerbeteiligung, Höreranrufe zu bestimmten Themen, Diskussionen – ein bestimmtes Stimmungsbild vermittelt, wie die Bevölkerung wirklich denkt. Und außerdem steht es der Staatsmacht natürlich gut an, bei Vorwürfen zu sagen, die Pressefreiheit in Russland wird unterdrückt, zu sagen, was wollt ihr eigentlich?

Wir haben den Sender Echo Moskwy, wir haben die "Nowaja Gaseta", wir haben noch ein, zwei, drei andere Presseorgane, wenn die auch nur in geringer Auflage erscheinen und was die Zeitungen angeht, kaum Einfluss haben, weil die Menschen sich natürlich überwiegend über das Fernsehen hier und zum Teil auch über den Rundfunk informieren, die aber wiederum sind voll in staatlicher Hand, sodass der Sender Echo Moskwy und die "Nowaja Gaseta" eine wichtige, aber trotzdem eine Feigenblattrolle spielen wird.

Kassel: Wie ist denn die Lage der Journalisten in Russland, die noch echten Journalismus machen wollen? Wenn man sich Zahlen anguckt: Seit dem Jahr 2000 sind 23 Journalistinnen und Journalisten in Russland ermordet worden. Ich habe gerade aktuelle Zahlen, also Zahlen, die sich auf das Jahr 2008 beziehen, von Reporter ohne Grenzen, da ist ein Journalist ermordet worden, zehn wurden bedroht und zusammengeschlagen, 23 wurden inhaftiert. Wenn man diese Zahlen hört, wundert man sich doch eigentlich, dass sich überhaupt noch Menschen trauen, freien Journalismus zu betreiben?

Baag: Freier Journalismus und trauen, sich Journalismus zu betreiben, das sind, wie man bei uns sagt, zwei Paar Stiefel. Journalisten werden Sie hier immer finden, denn Journalisten, gerade in den elektronischen Medien, die werden mit etwas gelockt, das gerade in Zeiten der Krise ein wichtiger Punkt ist: Sie verdienen immer noch vergleichsweise gut.

Wer nah an der Macht dran ist und sich mit der Macht nicht überwirft, der kann als Journalist hier, vom Renommee mal ganz abgesehen, aber von den Verdiensten und dem Einfluss und dem Gefühl, der Macht nahe zu sein, ganz gut existieren. Freier Journalismus, da müsste ich ein bisschen rekapitulieren und vielleicht auch mal, was die Journalistenausbildung angeht, zurückführen: Wir haben hier in Moskau beispielsweise eine (…), wie das hier heißt, eine Fakultät für Journalismus, eine Journalistenschule im weitesten Sinne, da fallen dann zum Beispiel solche Begriffe wie: ihr jungen Journalisten, wenn ihr Journalisten werdet, gerade wenn ihr euch mit dem Ausland beschäftigt und über ausländische Themen schreibt und über russische Themen im Ausland reden müsst, denkt daran, ihr befindet euch in einem, jetzt wörtlich, Informationskrieg.

Das heißt, ihnen wird sozusagen von vornherein schon vermittelt, dass Journalisten im Prinzip die Aufgabe haben, die Interessen des Staates zu vertreten. Also, das Selbstverständnis, unbedingt die Interessen der Bevölkerung zu vertreten, das wären die freien Journalisten, von denen Sie gesprochen haben, aber diese Rolle wird schon beginnend bei der Berufsausbildung junger Journalisten gar nicht so sehr hier in den Vordergrund gestellt. Es gibt natürlich Ausnahmen, es gibt auch Kollegen, junge Kollegen, die hervorragend recherchierende Journalisten sind, aber das ist nicht der Mainstream.

Kassel: Hat sich da in den letzten Jahren, hat sich vielleicht durch den Amtsantritt von Medwedew irgendetwas verbessert oder in irgendeiner Form geändert?

Baag: Lassen Sie es mich so formulieren: Es gibt winzige Signale, man könnte sagen, es gibt vielleicht, vielleicht gewisse Akzentverschiebungen, aber nun grundsätzlich und generell von einer Veränderung zu sprechen, da würde ich mich sehr davor hüten, dazu sind die beiden, Putin und Medwedew, nach außen hin wirken noch viel zu sehr ein Tandem.

Hier sind im Prinzip immer, wie gesagt, nach außen wirkend zwei Männer zugange, die doch mehr oder weniger dasselbe denken, vielleicht unterschiedliche Akzente setzen. Beides sind Juristen, aber man muss sagen, dass Medwedew in seinen öffentlichen Äußerungen wesentlich mehr die Worte Rechtsstaatlichkeit, Kampf gegen die Korruption, Rechtswesen, Justiz, Reform, einen zivileren Umgang mindestens verbal formuliert, und er hat, und das sollte man an diesen Tagen nicht vergessen, nach dem Mord an (…) und eben Anwalt (…) im Winter zu sich in den Kreml eingeladen, Michail Gorbatschow und den vorhin gehörten Chefredakteur Dimitri Muratow. Gorbatschow ist Mitherausgeber der "Nowaja Gaseta", und das, dieser Vorgang ist hier mit Aufmerksamkeit registriert worden.

Kassel: Robert Baag aus Moskau über Journalismus in Russland und über den Auftakt des zweiten Prozesses gegen drei Männer, die an dem Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja beteiligt gewesen sein sollen.