Schaukeln über Wien

Von Jürgen Bräunlein · 03.07.2007
Man nannte das Bauwerk einen "drehbaren Eiffelturm", und das war durchaus als Kompliment gemeint: das Riesenrad auf dem Wiener Prater. Neben dem Stephansdom und Schloss Schönbrunn ist es das dritte inoffizielle Wahrzeichen der Donaumetropole und heute wie zur Inbetriebnahme eine Touristenattraktion. Jährlich drehen vier Millionen Menschen ihre Runden.
"In diesem monströsen Gefährt kommt man nirgendwo an als immer wieder am Ausgangspunkt, falls man es überhaupt wagt, sich einer der waggonartigen Kabinen anzuvertrauen."

Mit Unbehagen und Faszination zugleich blickte der nicht schwindelfreie Schriftsteller Günter Kunert auf das Wiener Riesenrad.

"Unsere Mägen fühlen sich unangenehm dem Erdenkreis entrückt. Und das einzige, was in dieser fatalen Lage zwischen Himmel und Hölle sichtbar wird, ist unser deutliches Missbehagen an dieser fatalen Lage, in die wir uns freiwillig unwissend begaben."

Mit seiner Abneigung steht Günter Kunert ziemlich alleine da. Als eine der Hauptattraktionen im Vergnügungspark des Wiener Praters, der weitläufigen Parkanlage im Gemeindebezirk Leopoldstadt, beglückt das Riesenrad bis heute Generationen von Schwindelfreien.

Am 3. Juli 1897 wurde das Wiener Riesenrad offiziell eingeweiht zu Ehren von Kaiser Franz Josef I., der ein Jahr später sein 50. Thronjubiläum feierte. Ehe die Jungfernfahrt losging, ertönte die englische Nationalhymne. Das waren die stolzen Habsburger den Briten schuldig. Denn das Wiener Riesenrad war ein Exportartikel. Der britische Marineleutnant und Ingenieur Walter Basset hatte das fast 66 Meter hohe Gerüst konstruiert. Der Durchmesser des drehbaren Rades betrug 61 Meter. Die Einzelteile wurden in London angefertigt und vor Ort zusammengebaut. Das fertige Stahlbauwerk wog schließlich 430 Tonnen und setzte 30 Kabinen in Bewegung.

Das "Riesen-Luft-Carrousell", wie das Riesenrad zunächst hieß, sollte den "Kaisergarten" schmücken. Dort konnte man umgeben von italienischen Bauten bereits auf künstlichen Kanälen Gondel fahren oder in die Oper gehen. Die Investition in ein Riesenrad amortisierte sich schnell. Es schenkte den Massen Zerstreuung und eine wunderbare Aussicht.

Das Riesenrad stand im Herzen der Habsburger Macht und war die Verbeugung Österreichs vor der Moderne. Die ganze Welt wetteiferte damals um den kühnsten technologischen Entwurf. Der 300 Meter hohe Eiffelturm, die Sensation der Weltausstellung von 1889, setzte die Maßstäbe. Nachdem 1893 in Chicago das erste Riesenrad der Welt eröffnet wurde, wollten die Europäer nicht nachstehen. Nicht nur in Wien, auch in London, Berlin und Paris wurden Riesenräder errichtet. Der Bauherr jedes Mal: Walter Basset. Doch am besten schien das Riesenrad zu den Wienern zu passen:

"Des is des Ries'nrad, was sich so langsam draht,
wia da Verwaltungsapparat, in unser'm Hundestaat."

Es gab auch brenzlige Situationen, so im Jahr 1898, als eine junge arbeitslose Artistin auf ihr Elend aufmerksam machen wollte und sich mit einem Seil an einen der Waggons hängte, während sich das Rad drehte. Die Sache ging glimpflich aus.

Von allen genannten Riesenrädern ist das in Wien das einzige, das heute noch steht - dank vieler Zufälle. Als der Erste Weltkrieg begann, untersagte die Regierung den Betrieb. Man befürchtete eine feindliche Ausspähung von oben. 1937 kam das Riesenrad unter Denkmalschutz, im April 1945 schoss die sowjetische Artillerie die Gondeln in Brand. Das Riesenrad überlebte als trauriges Skelett inmitten des zertrümmerten Vergnügungsparks.

Vor dieser Kulisse spielte dann auch die Schlüsselszene von Carol Reeds düsterem Filmklassiker "Der Dritte Mann". Anlässlich der Dreharbeiten und für die Wiedereröffnung 1947 wurde das Riesenrad instand gesetzt. Doch die Stahlkonstruktion vertrug jetzt nur noch die Hälfte der ursprünglich 30 Kabinen. Dafür erstrahlt das Wiener Riesenrad heute nach Sonnenuntergang in goldenem und silbernem Licht. Vier Millionen Menschen drehen dort jährlich ihre Runden. Zwei Luxuskabinen gibt es auch: Jubiläumswaggon und Kaiserwaggon. Es sind pompös ausgestattete Gondeln mit Vorhängen, Teppichboden und sogar einer Toilette: Schaukeln wie Gott in Wien.