Schau der unsicheren Gewissheiten

Von Holger Hettinger · 25.11.2012
Nach rund 90 Tagen hat die weltgrößte Leistungsschau der Architektur in Venedig ihre Pforten geschlossen. Doch diese von David Chipperfield kuratierte Biennale interessierte sich zuvörderst gar nicht für Architektur – sondern für das, was sie möglich oder unmöglich macht.
Und da sitzt man dann in seinem Strand-Klappstuhl inmitten von fein säuberlich aufgeschüttetem Sand, hat eine gefühlt 20 Kilogramm schwere, klobige Holz-Konstruktion auf der Nase und schaut auf ein Meeres-Panorama, das per Video in diese eigenartige 3-D-Brille projiziert wird. Das Ganze hat einen derart dilettantischen Charme, dass man die ungelenke Inszenierung dankbar annimmt, um dann zu begreifen: alles gar nicht ernst gemeint. Jedenfalls nicht so richtig. Man beginnt hier, im Klappstuhl inmitten der verlassenen historischen Werft-Bauten des "Arsenale" von Venedig, darüber nachzudenken, was unser Befinden und unsere Befindlichkeit steuert, man grübelt darüber, wie echt das sein muss, was unsere Bedürfnisse befriedigt, wie letztlich auch der schöne Schein und die gepflegte Kulisse unsere Wünsche und Sehnsüchte bedienen kann. Sehr viel Innenwelt also, sehr subjektiv sowieso – und damit ein Stück weit symptomatisch für die programmatische Ausrichtung der Architekturbiennale von Venedig, der wichtigsten Leistungsschau der zeitgenössischen Architektur. "Common ground" heißt das Leitmotiv des 2012er Jahrgangs, und es ist ein sympathischer Zufall, dass das gar nicht so eindeutig ins deutsche zu übersetzen ist. Das illustriert sehr schön die vexierbildartige Machart der von David Chipperfield kuratierten Ausstellung.

Denn eines war überraschend bei dieser Architektur-Schau: sie hat nicht primär Architektur gezeigt – sondern das, was Architektur befördern und hemmen kann, was sie erfolgreich macht, und was sie versickern lässt. Natürlich, insbesondere im Hauptpavillon hat man die tradierten Schaustücke gefunden, monumentale Modelle von Gebäude- und Stadtarchitektur, die in erster Linie dokumentieren soll, dass der federführende Star-Architekt ein ganz großer Hirsch ist. Aber gerade diese raren "größer-schneller-weiter"-Beispiele haben den geringsten Eindruck hinterlassen.

Es waren die kleinen Büros, die Architektur-Guerilla-Initiativen, die abnseits bewährter Denkmuster das verwirklichten, was Adam Kaasa, der Manager des Theatrum-Mundi-Projekts, als Kernthema ausgab:

"Die zentrale Frage lautet doch: Was ist die Rolle von Architektur, von Design, was bedeutet es, wenn man die Frage nach der Bedeutung von Raum für die Gestaltung des Politischen bewusst weiter auffasst als bisher. Da gibt es die althergebrachten Kategorien öffentlicher Raum, privater Raum, Gemeinschaft. Und die delikate Frage lautet: kann Design als gestaltendes Element in die Politik hineinwirken – oder kann man letztlich nur Räume öffnen für das, was sich entfaltet?"

Rund um den zentralen Pavillion inmitten der "Giardini" gruppieren sich die Länder-Pavillons – hier wurden jenseits des offiziellen Programms, aber doch räumlich nahe dran, ganz eigene Akzente gesetzt. Spanien hat die Transformationskunst des Küchen-Alchemisten Ferran Adria kurzerhand zu Architektur erklärt, und man schaut staunend auf Gemüsequader und Zylinder aus buntem Gelee, auf Videos, in denen es qualmt und zischt – stimmt, auch hier berühren sich ganz unterschiedliche Disziplinen, die man Architektur nennen kann, aber nicht muss.

Im deutschen Pavillon dreht sich alles um die Themenbereiche "Reduce / Reuse / Recycle", die mit großformatigen Fotos illustriert wurden – aber ehrlich gesagt sah das ein wenig aus wie eine Projektarbeit der 10. Klasse einer Gesamtschule. Jedenfalls hat sich der Beitrag in seiner angenehm ungezwungenen, beiläufigen Ausstrahlung bestens gefügt in das Biennale-Programm, das eher einer Befragung glich als einer Leistungsschau. Randall Bourschied, der Präsident von "Theatrum Mundi", spricht von einer Zeitenwende:

"Die Frage lautet: was ist das eigentlich: ein 'kulturelles Zentrum' in unserem Zeitalter? Solche Begriffe wie 'kulturelles Zentrum' kennen wir, im 20. Jahrhundert wurden viele Gebäude und Ensembles auf der ganzen Welt gebaut, um Macht oder Bürgerstolz auszudrücken, oder um neues Leben und wirtschaftliche Stärke zu gewährleisten. Die Frage, über die wir uns hier beugen, lautet: Wie hilfreich ist das alles gewesen, um eine kulturelle Entwicklung zu befördern? Und: Sind diese künstlerischen Impulse in der Mitte der Gesellschaft angekommen, oder hat das nur eine kleine Elite verstanden?"

Der zweite Schauplatz der Architekturbiennale was das "Arsenale", näher zum Markusplatz hin gelegen als die Giardini, aber durch die unwirkliche Industrie-Architektur, die verlassen vor sich hin rottet, ein Platz, der inmitten des Tourismus-Disneylands rund um Venedigs Mitte fast schon unwirklich erscheint. Hier durfte man über die hässlichsten, bedrückendsten, bedrohlichsten Gebäude des Kosovo abstimmen oder das Drama um die Hamburger Elbphilharmonie anhand riesenhafter Zeitungsausschnitte nachvollziehen. Architektur ist letztlich auch das, was die Politik zulässt.

Was bleibt? Die Erkenntnis, dass all die hochtrabenden Konzepte von Aneignung des öffentlichen Raums, vom Wechselspiel zwischen Politik und Design in der Tat funktioniert haben – und zwar nicht nur für allgegenwärtigen Architekturstudenten, die sich inmitten solcher Utopien dem Himmel nah fühlen durften. Sondern für alle, die sich eingelassen haben auf diese Schau der unsicheren Gewissheiten