Schattengefechte ums Kind

Von Sieglinde Geisel |
Warum soll man Kinder kriegen? Wir sind die erste Gesellschaft, die sich darüber Gedanken macht. "Kinder kriegen die Leute sowieso" – dieser Satz von Konrad Adenauer ist in den letzten Jahren als Irrtum berühmt geworden. Und doch steckt in ihm eine tiefe Wahrheit – eine Wahrheit allerdings, von der wir uns entfernen.
Warum entscheiden sich viele Menschen gegen Kinder? Liegt es an den fehlenden Krippenplätzen? Am Karriereknick, den vor allem Frauen zu befürchten haben? Sind Kinder zu teuer, oder haben viele einfach keine Lust, ihren Schlaf und ihre Freiheiten zu opfern? Manche Paare sprechen über ihren Kinderwunsch, als handle es sich um eine teure Anschaffung oder eine schwere Operation. Doch so heftig diese Diskussionen auch geführt werden – es bleiben Schattengefechte. Denn die Frage, ob man ein Kind in die Welt und in sein eigenes Leben bringen möchte, übersteigt unseren Horizont. Dies mag übrigens ein Grund dafür sein, dass wir erst seit ein paar Jahren darüber diskutieren. Schließlich hatten auch unsere Mütter schon die Pille, doch für sie stellte sich die Kinderfrage noch kaum. Man hatte einfach Kinder.

"Es gibt keinen Grund, Kinder zu wollen, genauso wenig wie es für Mozart einen Grund gab zu komponieren." Das sagt eine russische Freundin. Sie hat selbst zwei Kinder, und sie hätte sich ein Leben ohne Kinder niemals vorstellen können. In der Sowjetunion machten auch Mütter Karriere – kinderlose Wissenschaftlerinnen oder Ärztinnen gab es kaum. "Was wäre das Leben ohne Kinder!", antwortet eine westdeutsche Bekannte auf die Frage, warum sie drei Kinder hat. Ein Satz der Erfahrung, der sich außerhalb dieser Erfahrung nicht begründen ließe. Und wie steht es mit den Kindern selbst? Wollen sie später einmal Kinder haben? "Es muss doch immer weiter gehen", meint ein Fünfjähriger, dem die Frage allerdings komisch vorkommt. Illusionen über den Alltag mit seinesgleichen macht er sich übrigens keine. Als ein kinderloser Gast das Geschrei am Familientisch nicht mehr aushält, bemerkt er kühl: "Jetzt willst du bestimmt keine Kinder mehr haben. Jetzt siehst du ja, wie schlimm die sind." Wenn Kinder dazu da sind, das Leben weitergehen zu lassen, dann müssen sie ihre Eltern nicht glücklich machen. Manchmal muss man sie auch einfach ertragen. Und wozu das Leben weitergehen soll? Warum es uns überhaupt gibt? Wer weiß.

Wir debattieren pausenlos über Kinder, und doch bevölkern sie unsere Vorstellung nicht. Wer öffentlich über das Leben mit Kindern spricht, benutzt dafür ganz bestimmte Genres. Zum Beispiel die Familienkolumne: Hier werden die kleinen Katastrophen des Kinderalltags als Anekdoten dargeboten, glänzend formuliert und manchmal von surrealer Komik. Wenn Eltern wiederum dem anderen Teil der Gesellschaft vom Glück des Kinderhabens berichten, verfallen sie oft in eine gefühlige Prosa, die etwas hilflos wirkt. Was dabei fast immer ausgespart bleibt, ist der ganz normale Alltag mit Kindern. Nun ja, er gibt auch nicht viel her. Arbeit kann man es nicht nennen, doch Freizeit ist auch nicht, schließlich war man den ganzen Tag beschäftigt, und obwohl man am Abend sogar zum Fernsehen zu müde ist, könnte man nicht sagen, was man eigentlich getan hat – im Gegenteil, man ist ja wieder zu nichts gekommen. Der Alltag mit Kindern findet in einer gesellschaftlichen Enklave statt. Hier liegen Unterforderung und Überforderung nah beieinander, und die Gesetze der Effizienz sind aufgehoben. Selbst wenn man effizient spielen könnte, wäre damit nichts gewonnen, denn man muss die Zeit ja totschlagen, bis die Kinder im Bett sind. Es ist für Erwachsene anstrengend, dauerhaft mit kleinen Kindern zusammen zu sein. Obwohl wir selbst Kinder waren, sind sie uns fremd.

Menschen, die keine Kinder hatten, hat es immer gegeben. Doch in früheren Zeiten waren sie trotzdem von Kindern umgeben. Immanuel Kant zum Beispiel wusste als kinderloser Single, dass Säuglinge erst mit sechs Wochen anfangen zu lachen. Er pries die "Liebenswürdigkeit des Geschöpfs im Zeitraum seiner Entwickelung zur Menschheit". Dem Kind werde eine "Spielzeit" zugestanden, und diese sei, so Kant "die glücklichste unter allen, wobei der Erzieher dadurch, dass er sich selber gleichsam zum Kinde macht, diese Annehmlichkeit nochmals genießt". Diese Worte von Kant berühren uns. Offenbar hat er gern mit Kindern gespielt, und dies bringt uns den Philosophen auf eine ganz besondere Weise nahe. Wer sich die Fähigkeit bewahrt, wieder zum Kind zu werden, ist ganz Mensch. Deshalb riskiert eine Gesellschaft, in der Kinder nicht mehr selbstverständlich sind, mehr als nur Überalterung.

Sieglinde Geisel wurde 1965 in Rüti/ZH in der Schweiz geboren. Sie studierte in Zürich Germanistik und Theologie und zog 1988 nach Berlin Kreuzberg. Nach dem Mauerfall verlagerte sich ihr Interesse in den Osten, im Auftrag der "Neuen Zürcher Zeitung" reiste sie für eine Reihe von Städteporträts in die Metropolen Ostmitteleuropas, lebte vorübergehend in Lublin, Polen. 1994 ging sie nach New York, wo sie für vier Jahre als Kulturkorrespondentin für die "Neue Zürcher" Zeitung tätig war. Im Januar 1999 kehrte sie auf eigenen Wunsch nach Berlin zurück. Als freie Journalistin schreibt sie seither über kulturelle und soziale Themen. Im Sommer 2002 erschien in der Schriftenreihe der Vontobel-Stiftung Zürich ihr Beitrag "McDonald's Village".