Ruhrgebiet setzt auf Metropolen-Charakter

Oliver Scheytt im Gespräch mit Joachim Scholl · 08.01.2010
Das Ruhrgebiet wolle ab sofort "auf der touristischen Landkarte Europas" als Metropole Ruhr in Erscheinung treten, sagt Oliver Scheytt, Geschäftsführer der RUHR.2010. Die Region wachse mit den Mitteln der Kultur so zusammen, wie auch Europa mit den 27 Staaten mit den Mitteln der Kultur eine Verbindung eingegangen sei.
Joachim Scholl: Wandel durch Kultur, Kultur durch Wandel. Das ist das Motto der RUHR.2010. Auf über 2500 Veranstaltungen wird sich das Revier als deutsche Kulturhauptstadt des Jahres präsentieren. 53 Städte sind beteiligt, morgen geht’s los, in Essen auf der Zeche Zollverein. In diesen Minuten läuft die Pressekonferenz, auf der das offizielle Programm vorgestellt wird, und wir hatten die Gelegenheit, kurz zuvor mit dem Geschäftsführer der RUHR.2010 Oliver Scheytt zu telefonieren. Und ich habe ihn zunächst nach Herbert Grönemeyer gefragt, dem weltberühmten Bochumer, der morgen zur Eröffnung eine extra komponierte Hymne für die RUHR.2010 vortragen wird.

Oliver Scheytt: Wir freuen uns natürlich sehr, dass Herbert Grönemeyer dieses Lied gedichtet hat, "Kommt zur Ruhr", und es ist ein sehr getragenes Lied, ein Song, der glaube, ich zu Herzen geht.

Scholl: Wird der sozusagen ein nationaler Hit werden, was meinen Sie?

Scheytt: Man kann ihn auf jeden Fall mitsingen, und je öfter man ihn hört, desto schöner wird es.

Scholl: Was erwartet denn die Zuschauer noch auf dieser Eröffnungsveranstaltung morgen?

Scheytt: Ja, wir wollen natürlich gleich alles zeigen, unser gesamtes Programm, es mit Einblicken und Ausblicken vertreten. In zwölf Hallen werden wir die künstlerischen Programme präsentieren. Aber wir erwarten so viel Gäste, dass wir auch auf dem gesamten Außengelände 50 Punkte haben, an denen dann Ereignisse stattfinden, 1000 Feuer hinter der Kokerei erleuchten und werden auch wärmen, und in der Mitte ist ein Lagerfeuer um 22 Uhr, wo dann auch um 22 Uhr Chöre kommen und einen Vorgeschmack auf den "Day of Song" geben am 5. Juni nächsten, also diesen Jahres – ich bin noch immer in 2009, merke ich gerade. Und dieses gipfelt dann in einem Höhenfeuerwerk um 22 Uhr 30.

Scholl: Nun werden sich die Essener besonders freuen, dass Sie die Eröffnungsveranstaltung ausrichten dürfen. Waren die Bochumer oder die Dortmunder nicht sauer, dass ihnen dieses Privileg versagt blieb?

Scheytt: Nun, Essen hat ja die formale Rolle der Bannerträgerschaft übernommen im Jahr 2004, aber wir haben von vornherein immer gesagt, das ganze Ruhrgebiet wird zur Kulturhauptstadt einzig zur neuen Metropole und die Städte sind alle vertreten, mit eigenen künstlerischen Aktionen und natürlich vor allen Dingen auch im neuen Ruhrmuseum, das ja am 9. und 10. Januar zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich sein wird.

Scholl: Es ist natürlich unmöglich, Herr Scheytt, das gigantische Programm jetzt hier aufzufächern. Was sind denn aber so die Leuchttürme, die großen Kulturereignisse, die an der Ruhr also in diesem Jahr stattfinden?

Scheytt: Ja, zunächst einmal muss man sagen, dass der Festakt mit der Hymne von Herbert Grönemeyer in Anwesenheit des Bundespräsidenten und des EU-Ratspräsidenten live übertragen wird im Fernsehen. Das geht um 15 Uhr 30 dann los und um 18 Uhr ist das Kulturfest, und wir haben eine Spannbreite aus dem gesamten Programm. Das reicht von Reminiszenzen an Pina Bausch, die an der Folkwang-Hochschule in Essen Professorin war, über Henze-Einspielungen, denn wir haben ja mit Hans Werner Henze einen großen Musikzyklus vor uns, über den "Day of Song", den ich erwähnte, wo Chöre singen, bis hin zu dem Vorgeschmack auf das Projekt "SchachtZeichen". Im Mai diesen Jahres werden zehn Tage lang auf 350 ehemaligen Zechenstandorten Ballone auf 50 bis 80 Meter Höhe schweben und zwei davon sind schon zu sehen. Und "Raumlabor Berlin" hat eine Installation gemacht mit durchsichtigen Ballonen, um das PACT Zollverein Tanzzentrum herum, man taucht also ein in Seifenblasen. Und wenn dann noch ein bisschen Schnee dazukommt und der Puderzucker die Zeche einpudert, dann ist das bestimmt Romantik pur.

Scholl: Wandel durch Kultur, Kultur durch Wandel – welche Botschaft soll denn von diesem Motto ausgehen, Herr Scheytt?

Scheytt: Ja, das Ruhrgebiet war ja der größte Montan- und Zechenstandort in Europa, und wir hatten allein in Essen über 50 Zechen. Die letzte ist 1986 geschlossen worden, nämlich die Zeche Zollverein, und seit über 20 Jahren ist das zu einem Kulturstandort entwickelt worden. Das gilt für viele andere Standorte, und es gibt nur noch 36.000 Menschen, die im Bergbau arbeiten, aber bereits 23.000 Unternehmen der Kreativwirtschaft. Das ist also ein sichtbarer Wandel, und der Wandel ist auch, dass wir jetzt auf der touristischen Landkarte Europas in Erscheinung treten wollen als Metropole Ruhr. Und wir haben uns zusammengetan, 53 Städte, 5,3 Millionen Einwohner, und wachsen mit den Mitteln der Kultur so zusammen, wie auch Europa mit den 27 Staaten mit den Mitteln der Kultur eine Verbindung eingegangen ist.

Scholl: Die "Ruhr 2010", das Ruhrgebiet als europäische Kulturhauptstadt des Jahres. Morgen ist feierliche Eröffnung. Im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist der Geschäftsführer Oliver Scheytt. Ja, Stichwort Metropole Ruhr, Herr Scheytt: Also von Dortmund bis Duisburg erstreckt sich diese Kulturhauptstadt von 53 Städten und Gemeinden, kann man denn da überhaupt von einer Metropole sprechen?

Scheytt: Wir sind eine andere Metropole als andere. Wir sind der drittgrößte Ballungsraum in der Europäischen Union nach Paris und London, also insgesamt größer als Berlin oder Hamburg oder München oder auch Athen oder Rom, aber wir haben natürlich mehrere Zentren. Wir haben diese Städte, die ineinander übergehen, und deswegen haben wir auch fünf Besucherzentren, die jetzt im Januar eingeweiht werden, in Bochum, Dortmund, Duisburg, Oberhausen, Essen. Wenn man aber auf Zollverein den Blick auf die Metropole Ruhr genießen kann, dann sieht man gar nicht, wo die eine Stadt anfängt und die andere aufhört, und genau das werden wir sichtbar machen. Und viele, die von außen kommen, empfinden das auch gar nicht so, dass sie in verschiedenen Städten sind, sondern erleben es tatsächlich als einen sehr, sehr grünen Raum, in dem sehr, sehr viel Kultur und eine hohe Lebensqualität vorhanden ist.

Scholl: Sie haben es selbst schon erwähnt, wie wenig Menschen eigentlich noch im Bergbau arbeiten, also von 3200 Zechen von einst sind noch vier in Betrieb. Früher waren Kohle und Stahl eben die großen verbindenden Elemente. Inwiefern kann denn Kultur also hier wirklich ein neues, identitätsstiftendes Moment werden, was glauben Sie?

Scheytt: Ja, wenn wir in unsere Zukunft schauen – wir fragen ja nicht nur, was unsere Gegenwart und unsere Vergangenheit ausmacht und was uns selbst ausmacht –, wenn wir in die Zukunft schauen, dann müssen wir ganz deutlich sagen, wir haben eine internationale und eine interkulturelle Zukunft vor uns. Mehr als 50 Prozent der Kinder an den Grundschulen im Ruhrgebiet haben Migrationshintergrund. Hier werden 90 Sprachen gesprochen, 170 Nationen leben zusammen, und das ist eine europäische Zukunft, in die wir gehen, eine interkulturelle Zukunft. Und deswegen haben wir von Beginn an in unserem Programm auch gesagt, wir sind eine Kulturhauptstadt für alle und von allen und schauen auch ganz genau hin, was die Menschen, die hier aus anderen Kulturen leben, was die für eine Kultur mitbringen. Und wir möchten auch natürlich attraktiv sein für die Kreativen, die nicht nur hier durchziehen, sondern sich auch hier ansiedeln sollen.

Scholl: Was verbindet denn einen Castrop-Rauxeler mit einem Oberhausener, gibt es so etwas wie eine Ruhr-Identität?

Scheytt: Es ist auf jeden Fall zuerst einmal die Sprache. Wir haben ja nicht umsonst inzwischen in Deutschland ganz viele Kabarettstars, Komiker – ob das Helge Schneider sind oder Piet Klocke oder Atze Schröder. Viele von ihnen treten auch am Sonntag auf, in dem Programm "Wir sind das Ruhrgebiet". Und diese Sprache verbindet uns, dieser Humor verbindet uns, die Solidarität, das Ärmelhochkrempeln, das Anpacken, und insofern ist die Grenze nach Düsseldorf und nach Köln viel größer oft in der Mentalität als zum Beispiel die Verbindung nach Berlin, wo ja auch viele unterschiedliche Menschen zusammenleben und eine ähnliche Situation wie hier im Ruhrgebiet ist.

Scholl: Es gibt ja so den bösen Spruch: Früher war das Ruhrgebiet dreckig, heute ist es nur noch hässlich." Ich glaube, wer so was sagt, dem springen Sie ganz schön ins Kreuz, oder?

Scheytt: Ja, es ist noch schlimmer. Hagen Rether, der Kabarettist, hat gesagt: Wenn Essen so aussieht, wie sieht dann erst Kotzen aus? Wir können darüber inzwischen aber lachen, denn wir wissen, dass wir sehr, sehr schöne Ecken haben, dass wir uns überhaupt nicht zu verstecken brauchen. Nicht auf den ersten Blick erschließt sich diese Schönheit immer, man muss schon mit dem Fahrrad fahren, zum Beispiel auf den 600 Kilometern Radwegen, die es jenseits von Autostraßen gibt, eins der dichtesten und tollsten Radwegenetze, und dann erkennt man, aus was diese Schönheit besteht, nämlich aus den Brüchen zwischen schön und hässlich, zwischen kunterbunt und einheitlich. Und insofern kann ich nur jeden einladen, hierher zu kommen und sich ein eigenes Bild zu machen.

Scholl: Dass es gerade der kommunalen Kultur im Zuge des Steuersenkungsprogramms an den Kragen gehen könnte, das befürchten ja derzeit viele. Wird denn die RUHR.2010 über das Jahr hinaus auch noch Kraft für die Region entfalten können oder droht 2011 dann der Katzenjammer?

Scheytt: Wir werden im Jahr 2010 in einer Reihe von auch kulturpolitischen Veranstaltungen, auch in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kulturrat, natürlich thematisieren, welche Folgen aus der Finanzkrise für die Städte drohen oder zu ziehen sind, und wir möchten erreichen, dass wir die kulturelle Infrastruktur in eine neue Zukunft überführen, die durch die Zusammenarbeit auf der regionalen Ebene stärker gesichert wird. Und dazu haben wir bereits einen mehrjährigen Vorlauf, um auch die RUHR.2010 auf Dauer zu stellen. Nicht natürlich in dieser Größe und mit so viel Geld, aber in jedem Fall sind unsere Projekte auf Nachhaltigkeit angelegt. Das gilt schon für die touristische Infrastruktur mit den fünf Besucherzentren, es gilt aber auch für die 20 Museen zum Beispiel, ihre Kunstmuseen, die sich jetzt zu einem gemeinsamen Zusammenschluss vereint haben, Führungen gemeinsam anbieten, einen Sammlungskatalog gemeinsam herausgeben, die Theater produzieren, sechs Stadttheater, die "Odyssee Europa", wo man ein ganzes Wochenende lang sechs Stadttheater hintereinander erleben kann. Dieses werden nachhaltige Effekte sein, die eingetreten sind jetzt und die auch für 2011 und 2012 Wirkung entfalten werden.

Scholl: Ihr Kollege Fritz Pleitgen, der frühere WDR-Intendant, ebenfalls in der Geschäftsführung der RUHR.2010, hat im Vorfeld so ein bisschen die Sorge geäußert, ob denn die Menschen im Ruhrgebiet dieses Riesenfestival annehmen werden. Man wolle dem Publikum keinen Infarkt ans Herz spielen, so sein pfiffiger Ausdruck. Was sind denn Ihre Beobachtungen, Herr Scheytt, freut man sich auf die RUHR.2010?

Scheytt: Ja, die Freude ist jetzt von Tag zu Tag gestiegen. Wir haben es jetzt gemerkt an unseren Internetseiten, die plötzlich 12.000-mal am Tag besucht werden. Wir haben die Fans in Facebook, wir haben Twitter und alle Möglichkeiten der neuen Medien ausgenutzt und merken, dass dort eine hohe Frequenz eintritt, das Gleiche gilt für die Medien. Wir haben für morgen 500 Journalisten akkreditiert, 20 Fernsehteams, und allein die Reiseführerliteratur ist immens angewachsen. Insofern gilt es auf jeden Fall, dass wir in der öffentlichen Aufmerksamkeit zugelegt haben, und die Menschen hier machen mit, sie bringen sich in die Projekte ein. Wir haben schon viele Projekte, wo wir die Karten verlosen müssen, das gilt insbesondere auch für die Stilllegung der Autobahn am 18. Juli 2010, wo wir Tische verlost haben, 20.000 stehen zur Verfügung, und es werden viel mehr nachgefragt.

Scholl: Dann wünschen wir Ihnen erst mal eine tolle Eröffnung morgen, Herr Scheytt, und ein großartiges Jahr. Oliver Scheytt war das, Geschäftsführer der RUHR 2010. Schönen Dank für das Gespräch!

Scheytt: Ich danke auch und sage einfach: Glück auf!