Risikowahrnehmung

Wenn Abgase gefährlicher als Attentäter sind

Ein junger Mann mit Atemmaske auf einer Anti-Feinstaub-Demo in Berlin-Neuköllnläuft während einer Feinstaub-Demo in Berlin-Neukölln.
"Wir haben Husten": Anti-Feinstaub-Demo in Berlin © Imago
Von Stefan Kühl · 25.07.2017
Es ist viel wahrscheinlicher, durch die Abgasbelastung an der vierspurigen Zubringerstraße zu sterben als durch die Kugeln eines Amokläufers, meint der Soziologe Stefan Kühl: In den Medien höre man dennoch nur von Attentaten, jedoch nichts von den 30 Toten pro Tag durch Stickoxide.
Wenn man Menschen fragt, wovor sie Angst haben, hört man Antworten wie: Terroranschläge, Gewaltverbrechen oder Schweinegrippe. Dabei sind andere Gefahren viel relevanter – die freiwillige Aufnahme von zu viel Alkohol, das weniger freiwillige Passivrauchen oder die schleichende alltägliche Vergiftung durch Autoabgase.
Angesichts dieser verzerrten Wahrnehmung spricht man in der Soziologie von einem Risikoparadox. Gemeint ist die systematische Überschätzung von gut sichtbaren Risiken und die Unterschätzung von nicht gut erkennbaren Risiken.
Diese verzerrte Wahrnehmung hängt mit der Funktionsweise der Massenmedien zusammen. Ein Islamist, der mit dem Lkw in eine Menge von Fußgängern fährt, erzeugt viel mehr Aufmerksamkeit als die deutlich höhere Anzahl von Menschen, die tagtäglich aufgrund des Stickoxid-Ausstoßes von LKWs sterben.
Ein Amoklauf vor einem Einkaufszentrum ist Brennpunkt der Berichterstattung – obwohl es viel wahrscheinlicher ist, durch die Feinstaubbelastung an der vierspurigen Zubringerstraße zum Einkaufszentrum zu sterben als durch die Kugeln eines Amokläufers.

30 Tote per Tag durch Stickoxide

Allein die Stickoxide in Dieselabgasen verursachen jährlich über 10.000 Todesfälle in Deutschland – das sind fast 30 Tote pro Tag. Dazu kommen noch mindestens ebenso viele Todesfälle durch die Feinstaubbelastung. Man muss sich vorstellen, was los wäre, wenn es in Deutschland eine ähnlich hohe Zahl von Toten durch Terroranschläge geben würde.
Das "stille Massensterben" durch den Automobilverkehr wurde erst durch einige erfolgreichen Klagen der Deutschen Umwelthilfe überhaupt zu einem öffentlichen Thema. Die Klagen richteten sich gegen die Überschreitung von Grenzwerten, die seit Jahren gelten, deren Einhaltung aber in keiner Weise durchgesetzt wurde.
Für die Massenmedien gilt eben nicht nur "sex sells", sondern auch "crime sells" – gerade wenn die Gesetzesverstöße durch Großunternehmen oder Landesregierungen begangen werden.

Es gibt kein Grundrecht auf Individualverkehr

Leider sind die Reaktionen der Politik ziemlich vorhersehbar: ein paar Millionen mehr für den öffentlichen Nahverkehr und die Elektromobilität, die Reaktivierung der Abwrackprämie, um steuerfinanzierte Anreize für den Kauf neuer Autos zu geben, und das inzwischen obligatorische Software-Update für Dieselfahrzeuge.
Dann gibt man dem Ganzen einen peppigen Namen wie "Luftreinhaltung jetzt" oder "Chance zum Atmen" oder "Bündnis für bessere Luft" und suggeriert, dass sich durch diese Maßnahmen die Luftverschmutzung in den nächsten vier, fünf Jahren halbieren ließe – darauf vertrauend, dass sich dann niemand mehr an dieses Versprechen erinnert.
Dabei gibt es seit Jahren eine Alternative zu einer solchen verkehrspolitischen Symbolpolitik: die Einführung einer Citymaut. Doch interessanterweise entdecken Politiker ausgerechnet bei diesem Thema die soziale Frage – und zwar auch solche Politiker, die sich sonst wenig für die zunehmende Schere zwischen Arm und Reich interessieren. Sie argumentieren, dass die Citymaut es sozial Schwachen unmöglich machen würde, mit dem Auto in die Innenstadt zu fahren, und damit ihre Mobilitätsrechte beschneiden würde.
Politiker, die die kostenlose Bereitstellung von Grundnahrungsmitteln, Wohnraum oder öffentlichem Nahverkehr als Einstieg in den Sozialismus verdammen würden, fördern die kostenlose Nutzung öffentlichen Raums für den individualisierten Automobilverkehr – so, als ob das Grundrecht auf Mobilität das Recht beinhaltete, mit dem eigenen Auto jederzeit überall hinfahren zu dürfen, nur weil man die Schäden, anders als bei Terroranschlägen, nicht sofort sieht.

Stefan Kühl, Soziologe und Historiker, ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Er arbeitet als Organisationsberater für Ministerien, Verwaltungen und Unternehmen. Sein aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der "brauchbaren Illegalität" von Organisationen. Jüngst erschienene Bücher: "Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur" (Campus 2015) und "Das Regenmacher-Phänomen. Widersprüche und Aberglauben im Konzept der lernenden Organisation" (Campus 2015). www.metaplan.com

Der Soziologe und Historiker Stefan Kühl
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