Richter ohne Rechtssinn

17.11.2011
Während des Zweiten Weltkriegs verhängten Wehrmachtsrichter 30.000 Todesurteile. Viele dieser Juristen machten nach 1945 in der jungen Bundesrepublik trotzdem Karriere. Der Sammelband "Mit reinem Gewissen" klärt auf über dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte.
Die Wehrmachtsjustiz des Dritten Reiches war eine Mordmaschine. Sie verhängte 30.000 Todesurteile, von denen etwa 20.000 vollstreckt wurden. Das war ein Vielfaches mehr als von der gesamten Justiz, einschließlich der Sondergerichte, im nationalsozialistischen Deutschland gefällt wurden. Zum Vergleich: Der berüchtigte Volksgerichtshof verhängte etwa 5.200 Todesurteile.

Wer sich unerlaubt von der Truppe entfernte, konnte nach der wieder eingeführten Wehrmachtsjustiz, die in der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg abgeschafft worden war, entweder mit einer Zuchthausstrafe belegt oder aber als Deserteur hingerichtet werden. Viele Wehrmachtsrichter entschieden sich für die härteste aller Strafen. Todesurteile waren in ihren Augen nötig zur Abschreckung und zur "Aufrechterhaltung der Manneszucht". Sie funktionierten ganz im Sinne des verbrecherischen Krieges.

Das von Joachim Perels und Wolfram Wette herausgegebene Buch ist das Ergebnis einer Tagung. In zahlreichen Beiträgen befassen sich neben den bekannten Justizkritikern Perels, Wette, Manfred Messerschmidt oder Helmut Kramer vor allem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der jüngeren Generation mit der Thematik. Die Historikerin Claudia Bade zum Beispiel beschreibt die Netzwerke der Wehrmachtsrichter, die es schafften, die ehemaligen Nazi-Juristen in der Bundesrepublik auf beste Posten in Justiz und Wissenschaft zu bringen. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist Erich Schwinge, der in Marburg als Strafrechtsprofessor viele Jahre großen Einfluss hatte und bis zuletzt unbelehrbar daran festhielt, dass die Todesurteile der Wehrmachtsjustiz zu Recht gesprochen worden seien.

Die Historikerin Annette Weinke wagt eine erste thematische Annäherung an das Thema, wie denn die DDR mit der Aufarbeitung der NS-Militärjustiz umgegangen ist, was bisher weitgehend unerforscht blieb. Ein ehemaliger Wehrmachtsrichter brachte es gar zum Präsidenten des Obersten Gerichts der DDR. Andere hingegen wurden in den berüchtigten Waldheimer Geheim- und Schauprozessen verurteilt.

In dem Buch wird auch über einzelne Schicksale berichtet, über Täter und Opfer. Besonders eindrucksvoll beschreibt der inzwischen fast 90-jährige Ludwig Baumann, was er selbst erlebte. 1942 wurde er in Bordeaux als Deserteur zum Tode verurteilt und kurze Zeit später zwar begnadigt, das erfuhr er aber erst nach acht Monaten. Solange blieb er in der Todeszelle, in ständiger Angst, zur Hinrichtung geholt zu werden. Er erlebte zahllose Hinrichtungen anderer Verurteilter, ein einziges Grauen. Es folgten KZ, Wehrmachtgefängnis und Strafbataillon. Ludwig Baumann war einer der wenigen, die überlebten.

Nach dem Krieg galt er als vorbestraft, bekam keine Arbeit und fühlte sich wieder seiner Würde beraubt. Auch davon handelt das Buch, wie es dazu kommen konnte, dass erst mehr als 60 Jahre nach Kriegsende die Opfer der Wehrmachtsjustiz rehabilitiert wurden, während keiner der ehemaligen Wehrmachtsrichter verurteilt wurde. Selbst der große Ankläger Fritz Bauer konnte hier nichts ausrichten, die höchstrichterliche Rechtsprechung sorgte dafür, dass alle Nazi-Juristen, einschließlich der furchtbaren Wehrmachtsrichter, davonkamen. Erst 1995 kam es zur Wende in der BGH-Rechtsprechung. Die Karlsruher Richter sprachen von einem "folgenschweren Versagen der deutschen Strafjustiz".

Der Sammelband vereint Bekanntes mit neueren Erkenntnissen. Die Beiträge enthalten einige Wiederholungen, die vielleicht vermeidbar gewesen wären. Das tut dem Verdienst keinen Abbruch, ein lange vernachlässigtes Kapitel deutscher Geschichte zu durchleuchten - und dazu anzuregen, weiterzuforschen.

Besprochen von Annette Wilmes

Joachim Perels, Wolfram Wette (Hrsg.): Mit reinem Gewissen. Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und ihre Opfer
Aufbau Verlag, Berlin 2011
474 Seiten, 29,99 Euro