Rhythmenwechsel

Von Günther Huesmann · 15.01.2010
Als die "Original Excentric Band" aus Berlin am 15. Januar 1920 ihren "Tiger Rag" veröffentlichte, war den Musikern vielleicht nicht klar, dass die Aufnahme die erste deutsche Jazz-Schallplatte werden sollte. Doch immerhin tauchte das Wort auch auf der Plattenhülle auf: Jazz.
Auch wenn diese Band den "Tiger Rag" noch ganz im Stil einer Marschkapelle intonierte, ihr wurde die Ehre zuteil die erste offizielle Jazzplatte in Deutschland aufzunehmen. Man weiß nicht viel über die "Original Excentric Band" aus Berlin. Der Vorname ihres amerikanischen Bandleaders Mr. F. Groundzell ist genauso ungeklärt wie die Identität der Mitspieler.

Eines aber ist gewiss: Am 15. Januar 1920 veröffentlichte die Plattenfirma "Homokord" diesen holprigen Versuch, amerikanische Jazzvorbilder zu imitieren. Zum ersten Mal tauchte auf dem Etikett einer deutschen Schallplatte das Wort "Jazz" auf.

So ungelenk die frühen deutschen Jazzbands phrasierten – sie schürten eine ungeheure Tanzbegeisterung. 1922 schrieb Heinz Pollack in der Broschüre "Die Revolution des Gesellschaftstanzes":

"Tanzmeister und Orchester verbrannten schämig ihre alten Noten, kauften sich Kindertrompeten, Kuhglocken, Gitarren und Zündplättchenpistolen und ließen sich frohgemut und heiter als Original-Jazz- oder Shimmy-Band zu Hunderten engagieren. Treulichst wurde die Devise befolgt: keine Destille ohne Jazz-Band!"

Neun Jahre zuvor hatte der Jazz noch die Ordnungshüter beschäftigt. In einem Dresdner Polizeibericht von 1913 hieß es:

"Bei der Königlichen Polizei-Direktion sind Klagen geführt worden, dass bei öffentlichen Tanzveranstaltungen dieser sogenannte Bärentanz in einer Weise getanzt wurde, die das Sittlichkeitsgefühl verletzte ... Vor allem hat die Tänzerin dabei häufig die Beine seitwärts so abgespreizt, dass man die Unterkleider, Strümpfe usw. sah. Derartige Auswüchse kann die Königliche Polizei-Direktion nicht dulden."

Anders als in England und Frankreich verbreitete sich der Jazz in Deutschland zunächst langsam. Der entscheidende Grund war die Isolation Deutschlands unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg.
Zwar war die afroamerikanische Musik in Städten wie Berlin und Hamburg nicht unbekannt. Viele schwarze Stars der Minstrel-Shows hatten auf ihren Tourneen in Deutschland Station gemacht. Und doch war das Wissen um diese so neue, moderne Musik bis dahin das Privileg einiger weniger gewesen – von Menschen, die den Weg in die Revuen fanden.
Erst das Grammofon sorgte dafür, dass der Jazz massenhaft verbreitet wurde. Die unkonventionellen Instrumente und Rhythmen führten zu einem Bruch mit den nationalen Traditionen der Unterhaltungsmusik. Hans Pollack schrieb:

"Die Wahl der Mittel zum Taktschlagen ist grotesk: Trommeln, Klingeln, Trompeten, Schreckschusspistolen, Blechbüchsen, Pauken, Holzklötze, Gitarren, Kinderquarren, ja jeder Gegenstand, der beim Daraufschlagen oder sonstiger Bearbeitung ein recht durchdringendes Geräusch erklingen lässt, ist ein willkommenes Instrument der Jazzband."

Der Jazz war ein Symbol der Moderne. Sein Sound richtete sich gegen die Prüderie der Wilhelminischen Zeit, gegen den militärischen Drill des Kaiserreiches. Er ließ etwas zu, was in der verstockten Erziehung der Elterngeneration unterdrückt worden war: die Annäherung der Geschlechter, der Körperkontakt, das Ausleben von spontanen Impulsen, die Inszenierung der eigenen Persönlichkeit.

Die Schallplatte spielte nicht nur bei der Popularisierung des Jazz eine zentrale Rolle, sie erleichterte auch das Erlernen der Melodien. Jetzt konnten improvisierende Musiker mühelos die Soli ihrer Vorbilder Note für Note studieren. Ein Umstand, der den Jazzkritiker Horst H. Lange mit Blick auf den Erfinder des Phonografen zu dem Spruch verleitete:

"Ein Spaßvogel hat einmal gesagt, dass Thomas Edison eigentlich der größte Jazzman aller Zeiten gewesen sei."