Revolution mit Witz und Courage

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 21.10.2009
Der Mauerfall vor 20 Jahren veränderte nicht nur das Land, sondern auch die Sprache. Neue Begriffe wie "Mauerspecht" und "Besserwessi" tauchten auf. Für Wolfgang Thierse waren die Sprüche und Verballhornungen von SED-Losungen auf den Demonstrationen ein "überraschender und erfreulicher, begeisternder Ausbruch an Witz und Courage und Fantasie".
Liane von Billerbeck: Der Herbst 1989 veränderte nicht nur ein Land und sorgte für das Ende der Blöcke, in den Wochen vor 20 Jahren entstanden auch neue Begriffe – von "Mauerspecht" bis "Besserwessi". Bei uns werden zwei Schriftsteller – Thomas Brussig und Ulrike Draesner, er aus dem Osten, sie aus dem Westen – solche Begriffe von heute an hin- und herwenden. Und zu Beginn dieser Serie über Worte der Wende haben wir uns Wolfgang Thierse zum Gespräch eingeladen, denn der ist nicht nur Vizepräsident des Deutschen Bundestages, sondern auch studierter Germanist. Herr Thierse, schönen guten Morgen!

Wolfgang Thierse: Guten Morgen!

Von Billerbeck: Wenn Sie an den Herbst '89 denken, welches Wort fällt Ihnen da als erstes ein?

Thierse: Ja, zunächst nicht ein einzelnes Wort, sondern besonders wichtig waren die Losungen dieses Herbstes, Beschwörungen, Selbstermutigungen in der ersten Phase: "Wir sind das Volk!", "keine Gewalt!" und vergleichbare. Man kann an den Sprüchen absehen, wie sich die Stimmung verändert hat, wie das Volk auf der Straße selbstbewusster wurde. Und da fallen dann einem ein solche Begriffe wie "Wendehals" und "Stasilaus", das sind die beiden Begriffe, die ich für besonders witzig, überraschend und pointiert halte.

Von Billerbeck: Jens Reich hat neulich mal in einer Diskussion gesagt, dass diese Vorstellung, eine Nation zu sein, also über die 40 Jahre, in denen es zwei deutsche Staaten gab, gehalten werden konnte, nicht bei allen, aber bei vielen. Haben Sie sich damals gewundert, wie schnell die Losungen sich veränderten von "Wir sind das Volk" zu "Wir sind ein Volk"?

Thierse: Das war im Monat November so, denn "Wir sind das Volk", das war ein politischer Anspruch gegen die da oben. Und "Wir sind ein Volk", darin war die Botschaft enthalten, die Lösung all unserer Probleme, die Erfüllung all unserer Sehnsucht, Wohlstand und Freiheit und Menschenrechte, das gibt's doch schon nebenan in der Bundesrepublik Deutschland, und wir sind doch ein Volk, da könnten wir doch das alles jetzt miteinander teilen. Also das war schon, na klar, ein Wechsel der politischen Botschaften. "Wir sind das Volk", das war der revolutionäre Anspruch bis zum 9. November, und danach im Laufe des November gewissermaßen die Erlösung von den Nöten durch die Erinnerung, die demonstrative, die heftige, die fordernde Erinnerung an die nationale Gemeinsamkeit.

Von Billerbeck: Ein Wort, das man vermutlich als gesamtdeutschen Begriff eines Tages, nämlich des 9. Novembers, in Erinnerung hat, auch ganz positiv besetzt, ist der Begriff "Wahnsinn". Wenn Sie an diese Nacht denken, wie haben Sie die in Erinnerung?

Thierse: Ach, gar nicht so aufgeregt. Ich erinnere mich daran, dass wir zunächst mal im Fernsehen, also im SFB-Fernsehen, einen Bericht über diese berüchtigte, berühmt-berüchtigte Pressekonferenz von Schabowski sahen und wir davorsaßen und sagten: Was sagt der denn da, was meint der denn eigentlich? Wir haben das nicht geglaubt, wir haben es nicht verstanden. Und erst im Laufe des Abends, als es dann weitere Berichte von der Grenze gab, wiederum über das SFB-Fernsehen, haben wir begriffen, da tut sich ja wirklich etwas, da wird die Mauer gerade von Osten aufgedrückt. Das war ein fast unglaublicher Vorgang. Wahnsinn war dann der Ausdruck der Fassungslosigkeit über ein wirkliches Wunder, das nicht vorgesehen war, das nicht geplant ist, das nicht Ergebnis planvoller Politik gewesen ist.

Von Billerbeck: Es gab ja in diesen Wochen auch – zum Glück, muss man sagen, weil ja die chinesische Lösung, die viele befürchtet hatten, ausgeblieben ist – es gab auch komische Momente. Wenn man zum Beispiel an die vielen Losungen denkt bei der großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz, organisiert von Künstlern und Theaterleuten: Großmutter, warum hast du so große Zähne?, darauf eine Zeichnung von Egon Krenz. Was haben Sie da noch in Erinnerung, was fanden Sie besonders komisch?

Thierse: Also das habe ich in Erinnerung, diese wunderbare Zeichnung, von Studenten der Kunsthochschule Weißensee gemacht, wie man inzwischen ja weiß. Nein, das habe ich überhaupt in Erinnerung, ein Ausbruch an Witz, an Courage, an Selbstbewusstsein, das hätte ich uns grauen, hässlichen, ängstlichen DDR-Bürgern gar nicht zugetraut. Also "Glasnost statt Phrasnost", "Good bye Gefolgskammer", "Wandlitz zeig dein Antlitz" – das sind so Losungen aus diesen Wochen. Dieser Volkswitz, der sich da deutlich machte, "Statt Volvos schwedische Gardinen" oder eine andere, "vorwärts, doch nicht vergessen", also auch Anspielung auf DDR-, auf SED-Losungen, die verwandelt wurde. Dann die volkstümliche Reimkunst, die in solchen Losungen deutlich wird. Oder sozusagen wiederum in Anspielung auf Losungen aus DDR-Zeiten: "So wie wir heute demonstrieren, werden wir morgen leben" und ähnliche Dinge. Also das war ein so überraschender und erfreulicher, begeisternder Ausbruch an Witz und Courage und Fantasie.

Von Billerbeck: "Worte der Wende", so heißt unsere Serie, die von heute an im "Radiofeuilleton" täglich bis zum 13. November läuft. Die Schriftsteller Thomas Brussig und Ulrike Draesner wenden Worte von damals hin und her. Zum Auftakt sprechen wir mit Wolfgang Thierse, der ist von Beruf nämlich auch Germanist. Ein Titel, ein Titelblatt einer Zeitung ist bestimmt vielen Menschen noch in Erinnerung, das berühmte "Titanic"-Titelbild mit Zonen-Gaby, also die eine Gurke in der Hand hält, die sie für eine Banane hält. Konnten Sie darüber lachen?

Thierse: Ach nein, so wenig wie die anderen Bemerkungen mich – ich erinnere mich, Stephan Heym hatte sich gehässig über die DDR-Bürger geäußert, die an den Tischen der Kaufhäuser an den Billigwarentischen wühlten, oder die verächtliche Bemerkung über DDR-Bürger, die nach Bananen stehen und nach Bananen gieren. Nein, darüber habe ich mich nicht gefreut.

Ich hab für mein erstes Geld gewiss nicht Bananen oder Ähnliches gekauft, sondern selbstverständlich eine Zeitung und Bücher. Aber der Wunsch nach beidem, nach Freiheit und nach vergleichbarem Wohlstand, ist legitim und er ist hochverständlich, und deswegen habe ich diese Art von Häme nie gut verstanden, denn das kann man nur vom hohen Ross dessen tun, der das alles immer schon hatte und deswegen die verachtet, die das, was man selber schon hat, nun endlich erreichen wollen, und zwar leidenschaftlich, meinetwegen auch gierig.

Von Billerbeck: Ein Wort, das seit diesen Tagen, vielleicht etwas später dann auch Konjunktur hatte, das wurde dann auch 1991 zum Unwort des Jahres gekürt, das war der Begriff "Besserwessi". Was verbinden Sie damit?

Thierse: Also dahinter steckten schon so bestimmte Erfahrungen. Das Gegenwort dazu heißt ja "Jammerossi". Das sind die Kurzformen für die Ost-West-Missfälligkeiten dieser Jahre, wo natürlich Ostdeutsche die Erfahrung gemacht haben, dass nicht nur wohlgesonnene, edle Westdeutsche rüberkamen, um beim Aufbau Ost zu helfen, sondern auch Leute, die hier ihre Geschäfte machen wollten, und Leute, die als Lehrmeister auftraten.

Natürlich, in Ostdeutschland musste sich alles ändern, die Ostdeutschen waren gewissermaßen die Lehrlinge, aber dass da manche Westdeutsche das so dick auftrugen, das hat ihnen diesen Ausdruck "Besserwessi" eingebracht, wie auch umgekehrt Westdeutsche sich dagegen gewehrt haben, dass Ostdeutsche immerfort geklagt haben, dass alles nicht schnell genug geht, dass es nicht leicht genug ist, dass sie nicht alles sofort erreicht haben.

Von Billerbeck: Ein Begriff, der auch eine Neuschöpfung war, war der Begriff "gaucken", also das Überprüfen durch die Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Komisch ist ja, dass keiner diesen Begriff geändert hat, als die Führung der Behörde sich änderte. Also man sagt nicht "birthlern", man sagt nach wie vor "gaucken".

Thierse: Aber "gaucken" sagt man kaum noch. Inzwischen ist das ein bisschen doch verblasst. Ich habe oft den Eindruck, dass das sprechschöpferische Genie des Volkes, der Bevölkerung ein bisschen müder wieder geworden ist. Die Laune dieser Zeit, dieser Hochzeit der friedlichen Revolution hat sich halt nicht halten können. Und "gaucken", na ja, einen solchen Kurznamen kann man halt zu einem Verb verwandeln, bei Birthler fällt es schwerer. Außerdem war es nicht mehr neu, es regte nicht mehr so auf, es bestimmte nicht mehr die öffentliche Debatte. Wir hatten uns gewöhnt daran, dass es diese Behörde gibt, dass es den Umgang mit den Stasiakten gibt, die Aufregung war geringer geworden, also brauchte man auch kein Kurzwort dafür.

Von Billerbeck: Bundestagsvizepräsident und Germanist Wolfgang Thierse über die Sprache, wie sie sich im Herbst '89 und danach verändert hat. Ganz herzlichen Dank!

Thierse: Auf Wiederhören!

Von Billerbeck: Unsere Serie "Worte der Wende" ist von heute an bis zum 13. November täglich zu hören. Es beginnt die westdeutsche Schriftstellerin Ulrike Draesner heute mit dem Begriff "Mauerspecht". Sie können ihn hören nach dem Feuilleton-Pressegespräch gegen 10.20 Uhr.